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Energie & Management > Aus Der Zeitung - RechtEck: Völlig losgelöst?
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Aus Der Zeitung

RechtEck: Völlig losgelöst?

Vor vier Jahren hat der EuGH die „völlige Unabhängigkeit“ der nationalen Regulierungsbehörden eingefordert. Eine Einordnung in das aktuelle Tagesgeschehen von Stefan Missling*.
Mit Urteil vom 2. September 2021 (C-718/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zur Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden festgestellt, die detaillierte Ausgestaltung des Netzzugangs und der Entgeltregulierung durch Rechtsverordnungen (etwa ARegV, Strom-/GasNEV) war unionsrechtswidrig. Die einschlägigen Binnenmarktrichtlinien verlangten eine „völlige Unabhängigkeit“ der nationalen Regulierungsbehörden in Ausübung der ihr zugewiesenen Aufgaben. In diesem Kernbereich müssten die Regulierungsbehörden frei von Weisungen „aller politischen Stellen“ − und damit der nationalen Legislative − handeln können. Der verfassungsrechtliche Gesetzesvorbehalt sei gewahrt, da das Unionsrecht als normative Grundlage ausreichend detailliert gefasst sei. Dem nationalen Gesetzgeber verbleibe weiterhin die Möglichkeit, politische Leitlinien − insbesondere zur Festlegung ihrer Energiepolitik − vorzugeben.

Zunehmend wird indes im politischen Raum hinterfragt, ob der deutsche Gesetzgeber erneut „über das Ziel hinausgeschossen ist“: So wie er in 2005 die Regulierungsvorgaben für die Behörde zu eng gefasst hat, ist er mutmaßlich mit der EnWG-Novelle 2023 zur Umsetzung der EuGH-Entscheidung zu kurz gesprungen. Die Gestaltung des regulatorischen Rahmens bleibt der Bundesnetzagentur überlassen. Sicher: Konkrete und detaillierte Vorgaben wären mit der unionsrechtlich gebotenen Unabhängigkeit unvereinbar. Der Gesetzgeber hat allerdings auch auf die gesetzliche Bestimmung politischer Leitlinien verzichtet; die abstrakte Zielbestimmung aus § 1 EnWG vermag hier nicht abzuhelfen. 

Zahlreiche Handlungsfelder, die sich indirekt auf die Entgelte auswirken, sind untrennbar mit politischen Entscheidungen verbunden, für die nicht eine Behörde, sondern der nationale Normgeber letztverantwortlich bleiben muss; seien diese wirtschaftspolitischer Natur (beispielsweise Sonderentgelte für industrielle Abnehmer oder Einspeiseentgelte) oder sozialpolitischer Art (beispielsweise Anerkennung von Personalzusatzleistungen). Solche industrie- oder energiepolitischen Entscheidungen bleiben − auch nach der EuGH-Rechtsprechung − dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten. 

Nach den EU-Richtlinien ist den Regulierungsbehörden (lediglich) die Aufgabe der Genehmigung der Tarife für den Netzzugang oder der Bestimmung der Methoden zu deren Berechnung zugewiesen. Damit sind jedoch nicht alle Belange im Kontext mit dem Netzzugang und Auswirkungen auf dessen Bepreisung vollständig den Behörden überlassen, wie es der EuGH in einer aktuellen Entscheidung (Urteil vom 6.3.2025; C-48/23) betont hat. Die Sperrwirkung für den nationalen Gesetzgeber kann nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen ohnehin nur so weit reichen, wie die Entgeltregulierung „durch einen detaillierten normativen Rahmen auf Unionsebene“ festgelegt ist. Der europäische Rechtsrahmen beschränkt sich jedoch lediglich auf Programmsätze; es fehlt an einer materiell hinreichend determinierten europarechtlichen Rechtsgrundlage. Die erheblichen Kontroversen um die Neuausgestaltung des nationalen Regulierungssystems durch die BNetzA, den NEST-Prozess, lassen sich auch damit erklären, dass hier keine Detailausgestaltung eines rechtlichen Rahmens vorgenommen wird, sondern letztlich ohne normative Leitplanken Recht durch eine Behörde geschaffen wird. Der Normanwender wird zum eigentlichen Normgeber. 

Jedenfalls der aktuelle Zwischenstand des NEST-Prozesses nährt die Bedenken, dass mit dieser Neufassung letztlich Energiepolitik betrieben wird: Im Raum steht eine deutliche Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Netzwirtschaft. Sowohl die beabsichtigte Verkürzung der Regulierungsperiode von fünf auf drei Jahre als auch die Verschärfungen der Effizienzvorgaben werden für einen massiv steigenden Kostendruck bei den Unternehmen sorgen. Ein Teil der angestrebten Regelungen trifft dabei insbesondere kleinere Netzbetreiber. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Bundesbehörde − entgegen ihren Beteuerungen − zunehmend auch Strukturpolitik betreibt. Und was bleibt von den zu Beginn des NEST-Prozesses adressierten Zielen der BNetzA wie spürbare Vereinfachungen des rechtlichen Rahmens und ein Bürokratieabbau? Nach dem derzeitigen Stand dürfte der Verwaltungsaufwand noch deutlich zunehmen; die Regelungen werden insgesamt komplexer. Aus drei Verordnungen werden voraussichtlich mehr als ein Dutzend Festlegungen.

Diesen Entwicklungen steht die aktuelle Bundesregierung derzeit etwas hilflos gegenüber. Für ihre Feststellung unzureichender Investitionsbedingungen für die hiesige Netzwirtschaft wird die zuständige Ministerin heftig kritisiert. Gegenüber den von der angekündigten Abschaffung des Bandlastprivilegs nach § 19 Abs. 2 StromNEV massiv betroffenen Industrieunternehmen musste die Politik einräumen, hierfür nicht mehr zuständig zu sein. Es wird zunehmend deutlich, dass Energiepolitik nicht mehr in Berlin, sondern in Bonn gemacht wird. Doch dies ließe sich zeitnah ändern: Die Bestimmung von energiepolitischen Leitlinien ist auch mit dem aktuellen Rechtsrahmen möglich. Und auf europäischer Ebene könnte mittelfristig im Wege einer Klarstellung der Richtlinien hinterfragt werden, ob nationale Behörden tatsächlich losgelöst vom jeweiligen Gesetzgeber agieren dürfen.

* Stefan Missling, Rechtsanwalt, Becker Büttner Held (BBH), Berlin

Freitag, 17.10.2025, 08:53 Uhr
Redaktion
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RechtEck: Völlig losgelöst?
Vor vier Jahren hat der EuGH die „völlige Unabhängigkeit“ der nationalen Regulierungsbehörden eingefordert. Eine Einordnung in das aktuelle Tagesgeschehen von Stefan Missling*.
Mit Urteil vom 2. September 2021 (C-718/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zur Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden festgestellt, die detaillierte Ausgestaltung des Netzzugangs und der Entgeltregulierung durch Rechtsverordnungen (etwa ARegV, Strom-/GasNEV) war unionsrechtswidrig. Die einschlägigen Binnenmarktrichtlinien verlangten eine „völlige Unabhängigkeit“ der nationalen Regulierungsbehörden in Ausübung der ihr zugewiesenen Aufgaben. In diesem Kernbereich müssten die Regulierungsbehörden frei von Weisungen „aller politischen Stellen“ − und damit der nationalen Legislative − handeln können. Der verfassungsrechtliche Gesetzesvorbehalt sei gewahrt, da das Unionsrecht als normative Grundlage ausreichend detailliert gefasst sei. Dem nationalen Gesetzgeber verbleibe weiterhin die Möglichkeit, politische Leitlinien − insbesondere zur Festlegung ihrer Energiepolitik − vorzugeben.

Zunehmend wird indes im politischen Raum hinterfragt, ob der deutsche Gesetzgeber erneut „über das Ziel hinausgeschossen ist“: So wie er in 2005 die Regulierungsvorgaben für die Behörde zu eng gefasst hat, ist er mutmaßlich mit der EnWG-Novelle 2023 zur Umsetzung der EuGH-Entscheidung zu kurz gesprungen. Die Gestaltung des regulatorischen Rahmens bleibt der Bundesnetzagentur überlassen. Sicher: Konkrete und detaillierte Vorgaben wären mit der unionsrechtlich gebotenen Unabhängigkeit unvereinbar. Der Gesetzgeber hat allerdings auch auf die gesetzliche Bestimmung politischer Leitlinien verzichtet; die abstrakte Zielbestimmung aus § 1 EnWG vermag hier nicht abzuhelfen. 

Zahlreiche Handlungsfelder, die sich indirekt auf die Entgelte auswirken, sind untrennbar mit politischen Entscheidungen verbunden, für die nicht eine Behörde, sondern der nationale Normgeber letztverantwortlich bleiben muss; seien diese wirtschaftspolitischer Natur (beispielsweise Sonderentgelte für industrielle Abnehmer oder Einspeiseentgelte) oder sozialpolitischer Art (beispielsweise Anerkennung von Personalzusatzleistungen). Solche industrie- oder energiepolitischen Entscheidungen bleiben − auch nach der EuGH-Rechtsprechung − dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten. 

Nach den EU-Richtlinien ist den Regulierungsbehörden (lediglich) die Aufgabe der Genehmigung der Tarife für den Netzzugang oder der Bestimmung der Methoden zu deren Berechnung zugewiesen. Damit sind jedoch nicht alle Belange im Kontext mit dem Netzzugang und Auswirkungen auf dessen Bepreisung vollständig den Behörden überlassen, wie es der EuGH in einer aktuellen Entscheidung (Urteil vom 6.3.2025; C-48/23) betont hat. Die Sperrwirkung für den nationalen Gesetzgeber kann nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen ohnehin nur so weit reichen, wie die Entgeltregulierung „durch einen detaillierten normativen Rahmen auf Unionsebene“ festgelegt ist. Der europäische Rechtsrahmen beschränkt sich jedoch lediglich auf Programmsätze; es fehlt an einer materiell hinreichend determinierten europarechtlichen Rechtsgrundlage. Die erheblichen Kontroversen um die Neuausgestaltung des nationalen Regulierungssystems durch die BNetzA, den NEST-Prozess, lassen sich auch damit erklären, dass hier keine Detailausgestaltung eines rechtlichen Rahmens vorgenommen wird, sondern letztlich ohne normative Leitplanken Recht durch eine Behörde geschaffen wird. Der Normanwender wird zum eigentlichen Normgeber. 

Jedenfalls der aktuelle Zwischenstand des NEST-Prozesses nährt die Bedenken, dass mit dieser Neufassung letztlich Energiepolitik betrieben wird: Im Raum steht eine deutliche Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Netzwirtschaft. Sowohl die beabsichtigte Verkürzung der Regulierungsperiode von fünf auf drei Jahre als auch die Verschärfungen der Effizienzvorgaben werden für einen massiv steigenden Kostendruck bei den Unternehmen sorgen. Ein Teil der angestrebten Regelungen trifft dabei insbesondere kleinere Netzbetreiber. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Bundesbehörde − entgegen ihren Beteuerungen − zunehmend auch Strukturpolitik betreibt. Und was bleibt von den zu Beginn des NEST-Prozesses adressierten Zielen der BNetzA wie spürbare Vereinfachungen des rechtlichen Rahmens und ein Bürokratieabbau? Nach dem derzeitigen Stand dürfte der Verwaltungsaufwand noch deutlich zunehmen; die Regelungen werden insgesamt komplexer. Aus drei Verordnungen werden voraussichtlich mehr als ein Dutzend Festlegungen.

Diesen Entwicklungen steht die aktuelle Bundesregierung derzeit etwas hilflos gegenüber. Für ihre Feststellung unzureichender Investitionsbedingungen für die hiesige Netzwirtschaft wird die zuständige Ministerin heftig kritisiert. Gegenüber den von der angekündigten Abschaffung des Bandlastprivilegs nach § 19 Abs. 2 StromNEV massiv betroffenen Industrieunternehmen musste die Politik einräumen, hierfür nicht mehr zuständig zu sein. Es wird zunehmend deutlich, dass Energiepolitik nicht mehr in Berlin, sondern in Bonn gemacht wird. Doch dies ließe sich zeitnah ändern: Die Bestimmung von energiepolitischen Leitlinien ist auch mit dem aktuellen Rechtsrahmen möglich. Und auf europäischer Ebene könnte mittelfristig im Wege einer Klarstellung der Richtlinien hinterfragt werden, ob nationale Behörden tatsächlich losgelöst vom jeweiligen Gesetzgeber agieren dürfen.

* Stefan Missling, Rechtsanwalt, Becker Büttner Held (BBH), Berlin

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