Quelle: E&M
Der neue Absatz 2b in § 49 des Energiewirtschaftsgesetzes hebt die Grenzen für Lärmemissionen an. So lässt sich mehr Strom transportieren. Anwohner befürchten Gesundheitsprobleme.
Eigentlich werden „bei der Gestaltung der resilienten Energiesysteme insbesondere technische, ökonomische und soziale Aspekte betrachtet“, heißt es aus dem Fachgebiet Resiliente Energiesysteme der Universität Bremen. Doch offenbar hatte der Bundestag im Juli 2022 nur die ersten beiden Aspekte im Blick, als er die Lärmschutzregeln für den Betrieb von Höchstspannungsleitungen massiv gelockert hat. Betroffen sind Drehstromsysteme ab 220 kV sowie Höchstspannungsgleichstromleitungen − sogenannte HGÜ-Leitungen.
Konkret wurde am 19. Juli ins Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) der neue Absatz § 49 (2b) eingefügt. Und damit fielen gleich zwei Grenzen: Zum einen dürfen die Leitungen tagsüber nun dauernd 70 Dezibel Ampere, kurz dB(A), und nachts 55 dB(A) auch in Wohngebiete emittieren, so viel wie bisher nur in Industriegebiete. Zum anderen sind die „seltene Ereignisse“ genannten Überschreitungen der Lärmgrenzwerte ohne zeitliche Einschränkung gestattet − also quasi immer und überall. Gut für die Übertragungsstromnetzbetreiber (ÜNB), schlecht für die Anwohnerinnen und Anwohner.
Je ausgelasteter, desto lauter
Dass Höchstspannung lärmt, wissen all jene, die schon einmal unter einer 380-kV-Leitung hindurchgewandert sind. Gerade bei Nebel oder hoher Luftfeuchtigkeit ist das „Spratzeln“ deutlich wahrzunehmen. Man spricht hier von einer sogenannten Koronaentladung, einer elektrischen Entladung in einem nicht leitenden Medium, beispielsweise Luft. Dauern diese Entladungen über eine längere Zeit an, können sie für Menschen in nahen Wohngebieten genauso störend wirken wie das Brummen, das durch die Wechselmagnetfelder zwischen den Leitungen in 50-Hertz-Drehstromsystemen entsteht. Jener EnWG-Absatz § 49 (2b) soll nun konkret deren höhere Auslastung möglich machen. Doch je mehr eine Leitung ausgelastet ist, desto lauter brummt es um sie herum.
Bisher hatten sich die ÜNB bei Planung und Betrieb ihrer 220-, 380-kV- sowie HGÜ-Leitungen an die Bestimmungen der sogenannten TA Lärm (Technische Anleitung Lärmschutz) zu halten. Zu Lärmemissionen in Richtung von Wohngebieten galt: Nur bei „seltenen Wetterereignissen“ durften dort die Grenzwerte von tagsüber 50 und nachts 35 dB(A) überschritten werden. Diese seltenen Ereignisse waren zudem auf maximal zehn Tage oder zwei Wochenenden im Jahr beschränkt. Oder wie es ein Sprecher des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) formuliert:
„Im bisherigen Verfahren musste zu jeder Zeit der niedrigste Grenzwert eingehalten werden, der Geräusche zur Nachtzeit abbildet. Überlagernde Fremdgeräusche, die beispielsweise durch Regen entstehen, wurden nicht berücksichtigt.“
HGÜ hatte man bei dieser Gesetzesänderung offenbar überhaupt nicht auf dem Schirm. Doch bei Gleichspannung treten die Entladungsgeräusche eher bei trockenem Wetter auf, heißt es von Amprion, einem der vier ÜNB in Deutschland.
Bürgerinitiative befürchtet konstanten Dauerton
Deshalb befürchtet nun Rainer Wegner von der Bürgerinitiative Umweltschutz Niedernhausen Eppstein (BI) „witterungsabhängig einen konstanten Dauerton“. Er lebt nahe der in Hessen im Bau befindlichen HGÜ namens Ultranet. Die soll auf die Masten einer bereits bestehenden 380-kV-Drehstromleitung gehängt werden.
Die Bundesnetzagentur gibt deshalb auch ganz offen zu: „Die Bundesnetzagentur hat dem Bundeswirtschaftsministerium empfohlen, den Vorschlag der Übertragungsnetzbetreiber aufzugreifen, für witterungsabhängige Anlagengeräusche Erleichterungen vorzusehen.“
Doch laut Wolfgang Baumann, Würzburger Fachanwalt für Verwaltungsrecht und oft mit Umweltrechtsfragen beschäftigt, könnte die EnWG-Änderung gesundheitliche Auswirkungen auf die Anwohnenden haben: „Bei 55 Dezibel Ampere nachts ist die Störung des Nachtschlafs über lange Zeit vorprogrammiert. Damit ist laut höchstrichterlicher Rechtsprechung der Anspruch auf gesunden Nachtschlaf verletzt.“
Wer denkt, dass für mögliche Lärmschäden das Bundesgesundheitsministerium BMG zuständig ist, irrt. „Die gesundheitlichen Auswirkungen des Lärms fallen unter den umweltbezogenen Gesundheitsschutz, der in die Zuständigkeit des Umweltministeriums fällt. Das BMG hat keine Stellungnahme zu § 49 (2b) abgegeben“, so eine Sprecherin des BMG auf Nachfrage von E&M.
Montag, 23.01.2023, 09:30 Uhr
Heinz Wraneschitz
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