E&M exklusiv Newsletter:
E&M gratis testen:
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung - Radikal Cool
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung

Radikal Cool

Künstliche Intelligenz ist für die Energiewirtschaft kein völliges Neuland. Die Branche wird sich jedoch immer wieder mit überraschenden Datenströmen auseinandersetzen müssen.
Was künstliche Intelligenz nicht alles bewirken kann: Sie könnte Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Stadtwerken zu einer Arbeitszeitverkürzung verhelfen, sogar zu einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Dieses Zukunftsszenario zeichnet ein Blogbeitrag der Energieforen Leipzig. Die Projektmanagerin Hong Trang Mai stellt darin die Frage: „Generative KI und Stadtwerke − schon heute ein gutes Duo?“

Wer sich nähere Informationen zur Google Cloud ansieht, erfährt beispielsweise, dass generative KI ein Modell für maschinelles Lernen nutzt, um etwas Neues zu erschaffen, etwa neue Bilder, neue Texte, ein neues Produktdesign oder neue Dienstleistungen. So ließe sich beispielsweise die Kundeninteraktion durch erweiterte Chat- und Suchfunktionen verbessern, heißt es auf der Internetseite des Datenkonzerns.

Für Versorger und deren Mitarbeiter mit Aussicht auf eine Vier-Tage-Woche würde das bedeuten: Standardanfragen und -abrechnungen ist Sache der KI.
Den Leipziger Beratern zufolge konzentriert sich die Nutzung generativer KI aktuell vor allem auf Chatbots. Mit „Ida“ hat Vattenfall sogar beim jüngsten Ranking „Top Digitaler Assistent 2023“ in der Versorgersparte den ersten Platz belegt. Den zweiten teilen sich „Sophie“ von Eprimo und „Paul“ von Envia M.

Vattenfall berichtet in der dritten Ausgabe seines Kundenmagazins 2023 von einer halben Million Nutzern pro Jahr, seit Ida 2021 gestartet wurde. Die Tendenz sei steigend. Anliegen rund um den Abschlag, die Rechnung oder den Zählerstand könnten Kunden mit Chatbot-Hilfe selbstständig bearbeiten, verspricht die Prozess- und Qualitätsmanagerin Aylar Ehtechami. Und wenn Ida nicht mehr weiterweiß, stehe das Serviceteam persönlich zur Verfügung. Und ein Bot von EnBW führt die Kunden per Handy-App durch die Störungsanalyse, wenn es mal beim Ladevorgang des E-Autos hakt. Am Ende des Prozesses steht die automatische Entstörung der Ladestation.
 
Sascha Lobo bei den Metering Days 2023 in Fulda
Quelle: E&M/Fritz Wilhelm

Die Wiesbadener ESWE hat ihre „Emma“ zusammen mit Trurnit und Onlim entwickelt, die nach eigenen Angaben seit 2018 vorkonfigurierte, auf Versorgerthemen spezialisierte Chatbot-Modelle anbieten. Mithilfe von KI lernen diese und sollen damit im Laufe der Zeit immer mehr Themen abdecken und Anfragen noch besser beantworten können. Denn für Alexander Boin, Geschäftsführer von Trurnit Digital steht fest, dass Stadtwerke ihre Kunden „binden“ und „begeistern“ müssen. Dazu müsse aber „der Service herausragend sein und die Ansprache immer zielgruppenspezifischer“.

Wenn sich Stadtwerke einen „herausragenden Service“ und eine zielgruppengerechte Kommunikation, am besten noch mit leicht handhabbaren Apps, auf die Fahne geschrieben haben, haben sie nach Ansicht von Sascha Lobo schon vieles richtig gemacht. Der Blogger, Buchautor und Digital-Experte, als den ihn die Moderatorin der diesjährigen ZVEI Metering Days vorstellte, betonte mehr als einmal in Fulda, dass die KI-Transformation mit einem „radikalen Fokus auf Nutzerzentrierung und Usability“ einhergeht. Für die Virtualisierung im Messwesen und in der Energiewirtschaft bedeute dies am Ende, dass mehr Endkundenkontakt stattfinden müsse und auch stattfinden werde. Wenn man nicht selbst Haushaltskunden habe, dann werde man sich Gedanken um die Haushaltskunden seiner Kunden machen müssen.

Fast genüsslich präsentierte der Blogger eine Reihe von Beispielen, die zeigen, wie neue Datenströme von künstlicher Intelligenz ausgewertet werden und das Potenzial entfalten, ganze Branchen zu transformieren. Wenn sich etablierte Unternehmen nicht darauf einstellen und schnellstens darauf reagieren, könnten Sie auf der Strecke bleiben, warnte er. Diese Gefahr habe beispielsweise akut für Weight Watchers bestanden, als die ersten KI-Anwendungen verfügbar waren, die das Kalorienbudget nicht mehr nach manuellem Wiegen und einem Eintrag auf eine Karteikarte berechneten, sondern lediglich ein Foto der Mahlzeit als Dateninput benötigten.
 
Nachdenken über überraschende Datenströme
 
Der direkte Bezug zur Energiewirtschaft fehlte zwar bei diesem wie bei den übrigen Beispielen. Die Botschaft war indes auch eine eher allgemeine: Denkt nach über überraschende Datenströme. „Ich glaube, dass da draußen ein Datenstrom ist, der die Energiewirtschaft im KI-Sinne transformieren kann“, sagte Lobo. Die Daten, auf die die Branche zurückgreifen könne, hält er für einen Schatz, dessen Qualität und Umfang bisher kaum jemand wirklich einschätzen könne. Den Produkt- und Dienstleistungsentwicklern gab er mit auf den Weg: „Es muss Aufgabe der Branche sein herauszufinden, welcher Datenstrom in welchem Kontext auf welche Weise das Potenzial zur KI-Transformation hat.“

Sicherlich werde es nicht eine einzige Antwort darauf geben, räumte er ein. Aber wenn man einen Datenstrom gefunden habe, müsse man sich „nur“ noch überlegen, wie man die Menschen incentivieren könne, ihn preiszugeben. Dass sie ihn preisgeben werden, hält Lobo zumindest für sehr wahrscheinlich. Dies zeige die Erfahrung mit Hula HQ. Nutzer, die sich erst kurz zuvor kennengelernt hatten und nicht lange über gesundheitlich relevante Rahmenbedingungen der Zweisamkeit diskutieren wollten, konnten darüber beispielsweise Testergebnisse zu Geschlechtskrankheiten austauschen.

Nach Einschätzung des Digital-Experten ist die App, die inzwischen aus dem iPhone App Store wieder verschwunden ist, ein Indiz dafür, dass bei der „richtigen“ Motivierung die Menschen bereit sind, selbst die intimsten Daten zu teilen. Warum sollte es dann nicht bei Informationen, die im weitesten Sinn einen Energiebezug haben, genauso sein.
 
Radikaler Fokus auf Usability
 
Für Lobo ist klar, dass Digitalisierung, wo auch immer sie stattfindet, stets nach ihren eigenen Regeln abläuft und sich nicht in erster Linie nach den Gepflogenheiten der jeweiligen Branche richtet. Deshalb müsse für Produktentwickler die Maxime gelten: Nutzerzentrierung und Usability.

Ein Phänomen, in dem sich die Regeln der Digitalisierung widerspiegeln, ist beispielsweise die „digitale Ungeduld“. Transaktionen müssen sofort und reibungslos ablaufen, zumindest in wenigen Sekunden. Ansonsten herrscht Frust und die Gefahr besteht, dass die Transaktion, im schlimmsten Fall die Beziehung abgebrochen wird.

Das zweite Phänomen, ebenfalls ein branchenübergreifender Erfolgsfaktor, ist die „Verwendungscoolness“. Ein Beispiel: Apps für die sogenannte On-Board-Diagnose im Auto, die eine eigentlich für Werkstätten gedachte Schnittstelle nutzen, um in Echtzeit Daten des Motors anzuzeigen, zu überwachen und gegebenenfalls Fehler aufzudecken. Die Smartwatch als Pulsmesser ist ein weiterer Beleg dafür, dass „die Inszenierung der Verwendungscoolness anstatt der Betonung der Ingenieurspräzision“, wie es Lobo formuliert hat, ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist.

Die Uhr hat den wenig handlichen Pulsoximetern, in die man einen Finger zur Messung hineinsteckt, den Rang abgelaufen. Schon allein der Name Pulsoximeter dürfte die Verwendungscoolness weitgehend ausschließen.
 
Digitale Ungeduld und Verwendungscoolness
 
Apple präsentiert seine Smartwatch als das „ultimative Tool für ein gesundes Leben“. Warum sollte dann ein intelligentes Messsystem nicht ein ultimatives Tool für die persönliche Energiewende sein? Ein gesundes Leben zu führen, ist in der Regel mit einer gewissen persönlichen Anstrengung verbunden, kann jedoch Spaß machen und erfüllend sein. Genauso wird die Umsetzung der Energiewende einen persönlichen Aufwand bedeuten.

Warum aber sollte man mit einem intelligenten Messsystem, das den Erfolg der Anstrengung misst, dokumentiert und im Bekannten- und Freundeskreis vorzeigbar macht, eventuell noch mit der einen oder anderen Smart-Home-Anwendung kombiniert, keinen „coolen“ Eindruck machen? Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was diese Überlegungen für das künftige Marketing in der Energiewirtschaft bedeuten.

Von Verwendungscoolness kann bei einer KI-gestützten Anlagenoptimierung eher nicht die Rede sein, ebenso wenig bei der vorausschauenden Wartung, für die ein KI-System jeweils die Entscheidungsgrundlage liefert. Hier sind die Versorger schon erste Schritte gegangen. In der Erzeugung, bei der Netzplanung und im Netzanschlussverfahren oder im Energiehandel kann künstliche Intelligenz mit Simulationen, Echtzeitauswertungen und digitalen Zwillingen wertvolle Hilfe bei der Steuerung und Optimierung von Prozessen liefern.

In der öffentlichen Wahrnehmung findet die „richtige“ KI-Transformation allerdings im Vertrieb und Kundenservice statt. Glaubt man Sascha Lobo, wird sie mit der weiteren Verbreitung von personalisierten E-Mail-Kampagnen oder Chatbots längst nicht abgeschlossen sein. „Ich glaube, dass wir kurz davorstehen, eine KI-Transformation in Bereichen wirksam werden zu sehen, die wir uns bisher kaum vorstellen konnten“, sagte er bei den Metering Days in Fulda. So weit, so gut, so pauschal.

Schon 2020 hat die Deutsche Energie-Agentur (Dena) in ihrer Analyse „Künstliche Intelligenz − vom Hype zur energiewirtschaftlichen Realität“ festgehalten, „dass KI für die erfolgreiche Transformation des zukünftig stark digital geprägten Energiesystems (…) unerlässlich ist“. Die Autoren betonten, wie wichtig die Individualisierung von Produkten und Marketingmaßnahmen für die Energieversorger sein wird, wiesen aber gleichzeitig darauf hin, dass die Einhaltung von datenschutzrechtlichen Vorgaben eine Grundvoraussetzung dafür ist.

Einen weiteren Fokus sehen sie auf der vereinfachten Teilhabe aktiver Verbraucher über KI-gesteuerte Prozesse. Langfristig könnten so neue Geschäftsfelder erschlossen und neuen Akteuren der Markteintritt erleichtert werden. Die Dena hat dabei eher an Haushalte, Aggregatoren und andere neue Anbieter gedacht, weniger an die großen internationalen Datenkonzerne. Dass diese, etwa im Messwesen, auf den Zug in die Energiewirtschaft aufspringen, wurde früher in der Branche befürchtet. Dass sich Google, Apple und andere Riesen doch noch im Markt breitmachen, wird jetzt aber mehr und mehr bezweifelt wie jüngst − ebenfalls bei den Metering Days − von Netze-BW-Chef Christoph Müller.

Allerdings gibt es auch vereinzelt Stimmen, die in Betracht ziehen, dass die großen Konzerne bisher vom regulatorischen Hickhack um den Rollout intelligenter Messsysteme abgeschreckt wurden und nun, wenn der agile Rollout vorankommt und wettbewerbliche Messstellenbetreiber günstigere Rahmenbedingungen vorfinden, sich mit dem Markteintritt durchaus noch einmal beschäftigen könnten.

Dienstag, 12.12.2023, 09:24 Uhr
Fritz Wilhelm
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung - Radikal Cool
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung
Radikal Cool
Künstliche Intelligenz ist für die Energiewirtschaft kein völliges Neuland. Die Branche wird sich jedoch immer wieder mit überraschenden Datenströmen auseinandersetzen müssen.
Was künstliche Intelligenz nicht alles bewirken kann: Sie könnte Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Stadtwerken zu einer Arbeitszeitverkürzung verhelfen, sogar zu einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Dieses Zukunftsszenario zeichnet ein Blogbeitrag der Energieforen Leipzig. Die Projektmanagerin Hong Trang Mai stellt darin die Frage: „Generative KI und Stadtwerke − schon heute ein gutes Duo?“

Wer sich nähere Informationen zur Google Cloud ansieht, erfährt beispielsweise, dass generative KI ein Modell für maschinelles Lernen nutzt, um etwas Neues zu erschaffen, etwa neue Bilder, neue Texte, ein neues Produktdesign oder neue Dienstleistungen. So ließe sich beispielsweise die Kundeninteraktion durch erweiterte Chat- und Suchfunktionen verbessern, heißt es auf der Internetseite des Datenkonzerns.

Für Versorger und deren Mitarbeiter mit Aussicht auf eine Vier-Tage-Woche würde das bedeuten: Standardanfragen und -abrechnungen ist Sache der KI.
Den Leipziger Beratern zufolge konzentriert sich die Nutzung generativer KI aktuell vor allem auf Chatbots. Mit „Ida“ hat Vattenfall sogar beim jüngsten Ranking „Top Digitaler Assistent 2023“ in der Versorgersparte den ersten Platz belegt. Den zweiten teilen sich „Sophie“ von Eprimo und „Paul“ von Envia M.

Vattenfall berichtet in der dritten Ausgabe seines Kundenmagazins 2023 von einer halben Million Nutzern pro Jahr, seit Ida 2021 gestartet wurde. Die Tendenz sei steigend. Anliegen rund um den Abschlag, die Rechnung oder den Zählerstand könnten Kunden mit Chatbot-Hilfe selbstständig bearbeiten, verspricht die Prozess- und Qualitätsmanagerin Aylar Ehtechami. Und wenn Ida nicht mehr weiterweiß, stehe das Serviceteam persönlich zur Verfügung. Und ein Bot von EnBW führt die Kunden per Handy-App durch die Störungsanalyse, wenn es mal beim Ladevorgang des E-Autos hakt. Am Ende des Prozesses steht die automatische Entstörung der Ladestation.
 
Sascha Lobo bei den Metering Days 2023 in Fulda
Quelle: E&M/Fritz Wilhelm

Die Wiesbadener ESWE hat ihre „Emma“ zusammen mit Trurnit und Onlim entwickelt, die nach eigenen Angaben seit 2018 vorkonfigurierte, auf Versorgerthemen spezialisierte Chatbot-Modelle anbieten. Mithilfe von KI lernen diese und sollen damit im Laufe der Zeit immer mehr Themen abdecken und Anfragen noch besser beantworten können. Denn für Alexander Boin, Geschäftsführer von Trurnit Digital steht fest, dass Stadtwerke ihre Kunden „binden“ und „begeistern“ müssen. Dazu müsse aber „der Service herausragend sein und die Ansprache immer zielgruppenspezifischer“.

Wenn sich Stadtwerke einen „herausragenden Service“ und eine zielgruppengerechte Kommunikation, am besten noch mit leicht handhabbaren Apps, auf die Fahne geschrieben haben, haben sie nach Ansicht von Sascha Lobo schon vieles richtig gemacht. Der Blogger, Buchautor und Digital-Experte, als den ihn die Moderatorin der diesjährigen ZVEI Metering Days vorstellte, betonte mehr als einmal in Fulda, dass die KI-Transformation mit einem „radikalen Fokus auf Nutzerzentrierung und Usability“ einhergeht. Für die Virtualisierung im Messwesen und in der Energiewirtschaft bedeute dies am Ende, dass mehr Endkundenkontakt stattfinden müsse und auch stattfinden werde. Wenn man nicht selbst Haushaltskunden habe, dann werde man sich Gedanken um die Haushaltskunden seiner Kunden machen müssen.

Fast genüsslich präsentierte der Blogger eine Reihe von Beispielen, die zeigen, wie neue Datenströme von künstlicher Intelligenz ausgewertet werden und das Potenzial entfalten, ganze Branchen zu transformieren. Wenn sich etablierte Unternehmen nicht darauf einstellen und schnellstens darauf reagieren, könnten Sie auf der Strecke bleiben, warnte er. Diese Gefahr habe beispielsweise akut für Weight Watchers bestanden, als die ersten KI-Anwendungen verfügbar waren, die das Kalorienbudget nicht mehr nach manuellem Wiegen und einem Eintrag auf eine Karteikarte berechneten, sondern lediglich ein Foto der Mahlzeit als Dateninput benötigten.
 
Nachdenken über überraschende Datenströme
 
Der direkte Bezug zur Energiewirtschaft fehlte zwar bei diesem wie bei den übrigen Beispielen. Die Botschaft war indes auch eine eher allgemeine: Denkt nach über überraschende Datenströme. „Ich glaube, dass da draußen ein Datenstrom ist, der die Energiewirtschaft im KI-Sinne transformieren kann“, sagte Lobo. Die Daten, auf die die Branche zurückgreifen könne, hält er für einen Schatz, dessen Qualität und Umfang bisher kaum jemand wirklich einschätzen könne. Den Produkt- und Dienstleistungsentwicklern gab er mit auf den Weg: „Es muss Aufgabe der Branche sein herauszufinden, welcher Datenstrom in welchem Kontext auf welche Weise das Potenzial zur KI-Transformation hat.“

Sicherlich werde es nicht eine einzige Antwort darauf geben, räumte er ein. Aber wenn man einen Datenstrom gefunden habe, müsse man sich „nur“ noch überlegen, wie man die Menschen incentivieren könne, ihn preiszugeben. Dass sie ihn preisgeben werden, hält Lobo zumindest für sehr wahrscheinlich. Dies zeige die Erfahrung mit Hula HQ. Nutzer, die sich erst kurz zuvor kennengelernt hatten und nicht lange über gesundheitlich relevante Rahmenbedingungen der Zweisamkeit diskutieren wollten, konnten darüber beispielsweise Testergebnisse zu Geschlechtskrankheiten austauschen.

Nach Einschätzung des Digital-Experten ist die App, die inzwischen aus dem iPhone App Store wieder verschwunden ist, ein Indiz dafür, dass bei der „richtigen“ Motivierung die Menschen bereit sind, selbst die intimsten Daten zu teilen. Warum sollte es dann nicht bei Informationen, die im weitesten Sinn einen Energiebezug haben, genauso sein.
 
Radikaler Fokus auf Usability
 
Für Lobo ist klar, dass Digitalisierung, wo auch immer sie stattfindet, stets nach ihren eigenen Regeln abläuft und sich nicht in erster Linie nach den Gepflogenheiten der jeweiligen Branche richtet. Deshalb müsse für Produktentwickler die Maxime gelten: Nutzerzentrierung und Usability.

Ein Phänomen, in dem sich die Regeln der Digitalisierung widerspiegeln, ist beispielsweise die „digitale Ungeduld“. Transaktionen müssen sofort und reibungslos ablaufen, zumindest in wenigen Sekunden. Ansonsten herrscht Frust und die Gefahr besteht, dass die Transaktion, im schlimmsten Fall die Beziehung abgebrochen wird.

Das zweite Phänomen, ebenfalls ein branchenübergreifender Erfolgsfaktor, ist die „Verwendungscoolness“. Ein Beispiel: Apps für die sogenannte On-Board-Diagnose im Auto, die eine eigentlich für Werkstätten gedachte Schnittstelle nutzen, um in Echtzeit Daten des Motors anzuzeigen, zu überwachen und gegebenenfalls Fehler aufzudecken. Die Smartwatch als Pulsmesser ist ein weiterer Beleg dafür, dass „die Inszenierung der Verwendungscoolness anstatt der Betonung der Ingenieurspräzision“, wie es Lobo formuliert hat, ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist.

Die Uhr hat den wenig handlichen Pulsoximetern, in die man einen Finger zur Messung hineinsteckt, den Rang abgelaufen. Schon allein der Name Pulsoximeter dürfte die Verwendungscoolness weitgehend ausschließen.
 
Digitale Ungeduld und Verwendungscoolness
 
Apple präsentiert seine Smartwatch als das „ultimative Tool für ein gesundes Leben“. Warum sollte dann ein intelligentes Messsystem nicht ein ultimatives Tool für die persönliche Energiewende sein? Ein gesundes Leben zu führen, ist in der Regel mit einer gewissen persönlichen Anstrengung verbunden, kann jedoch Spaß machen und erfüllend sein. Genauso wird die Umsetzung der Energiewende einen persönlichen Aufwand bedeuten.

Warum aber sollte man mit einem intelligenten Messsystem, das den Erfolg der Anstrengung misst, dokumentiert und im Bekannten- und Freundeskreis vorzeigbar macht, eventuell noch mit der einen oder anderen Smart-Home-Anwendung kombiniert, keinen „coolen“ Eindruck machen? Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was diese Überlegungen für das künftige Marketing in der Energiewirtschaft bedeuten.

Von Verwendungscoolness kann bei einer KI-gestützten Anlagenoptimierung eher nicht die Rede sein, ebenso wenig bei der vorausschauenden Wartung, für die ein KI-System jeweils die Entscheidungsgrundlage liefert. Hier sind die Versorger schon erste Schritte gegangen. In der Erzeugung, bei der Netzplanung und im Netzanschlussverfahren oder im Energiehandel kann künstliche Intelligenz mit Simulationen, Echtzeitauswertungen und digitalen Zwillingen wertvolle Hilfe bei der Steuerung und Optimierung von Prozessen liefern.

In der öffentlichen Wahrnehmung findet die „richtige“ KI-Transformation allerdings im Vertrieb und Kundenservice statt. Glaubt man Sascha Lobo, wird sie mit der weiteren Verbreitung von personalisierten E-Mail-Kampagnen oder Chatbots längst nicht abgeschlossen sein. „Ich glaube, dass wir kurz davorstehen, eine KI-Transformation in Bereichen wirksam werden zu sehen, die wir uns bisher kaum vorstellen konnten“, sagte er bei den Metering Days in Fulda. So weit, so gut, so pauschal.

Schon 2020 hat die Deutsche Energie-Agentur (Dena) in ihrer Analyse „Künstliche Intelligenz − vom Hype zur energiewirtschaftlichen Realität“ festgehalten, „dass KI für die erfolgreiche Transformation des zukünftig stark digital geprägten Energiesystems (…) unerlässlich ist“. Die Autoren betonten, wie wichtig die Individualisierung von Produkten und Marketingmaßnahmen für die Energieversorger sein wird, wiesen aber gleichzeitig darauf hin, dass die Einhaltung von datenschutzrechtlichen Vorgaben eine Grundvoraussetzung dafür ist.

Einen weiteren Fokus sehen sie auf der vereinfachten Teilhabe aktiver Verbraucher über KI-gesteuerte Prozesse. Langfristig könnten so neue Geschäftsfelder erschlossen und neuen Akteuren der Markteintritt erleichtert werden. Die Dena hat dabei eher an Haushalte, Aggregatoren und andere neue Anbieter gedacht, weniger an die großen internationalen Datenkonzerne. Dass diese, etwa im Messwesen, auf den Zug in die Energiewirtschaft aufspringen, wurde früher in der Branche befürchtet. Dass sich Google, Apple und andere Riesen doch noch im Markt breitmachen, wird jetzt aber mehr und mehr bezweifelt wie jüngst − ebenfalls bei den Metering Days − von Netze-BW-Chef Christoph Müller.

Allerdings gibt es auch vereinzelt Stimmen, die in Betracht ziehen, dass die großen Konzerne bisher vom regulatorischen Hickhack um den Rollout intelligenter Messsysteme abgeschreckt wurden und nun, wenn der agile Rollout vorankommt und wettbewerbliche Messstellenbetreiber günstigere Rahmenbedingungen vorfinden, sich mit dem Markteintritt durchaus noch einmal beschäftigen könnten.

Dienstag, 12.12.2023, 09:24 Uhr
Fritz Wilhelm

Haben Sie Interesse an Content oder Mehrfachzugängen für Ihr Unternehmen?

Sprechen Sie uns an, wenn Sie Fragen zur Nutzung von E&M-Inhalten oder den verschiedenen Abonnement-Paketen haben.
Das E&M-Vertriebsteam freut sich unter Tel. 08152 / 93 11-77 oder unter vertrieb@energie-und-management.de über Ihre Anfrage.