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Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung - Mit Stochastik raus aus den Windturbulenzen
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung

Mit Stochastik raus aus den Windturbulenzen

Die Windturbinenbauer sind in Turbulenzen. Aber auch meteorologische Windverwirbelungen setzen den Anlagen zu. Und dem Netz. Ein Oldenburger Forscherteam hat einen Ausweg gefunden.
Das saß. „Die Chinesen sind technisch besser als wir und sie sind auch kostengünstiger als wir“, sagte BASF-Chef Martin Brudermüller im November zu Journalisten. Ein Frontalangriff auf die europäischen Windturbinenhersteller. Der Chemiemanager fischte nicht in ganz fremden Gewässern: Er verantwortet eine Finanzbeteiligung am derzeit größten Windpark der Welt „Hollandse Kust Zuid“ mit 139 Windrädern, die zusammen 1.500 MW leisten. Und er hat den direkten operativen Vergleich mit China, denn dort errichtet die BASF selbst mit chinesischen Herstellern (OEM) Windparks.

Im selben Atemzug versuchte Brudermüller, die gängige Begründung für den vom ihm behaupteten Qualitäts- und Preisvorsprung der Chinesen zu zerstören. Er liege eben nicht an Preisdumping und chinesischen Subventionen. Von dem aktuellen „Wind Power Package“, mit dem die EU mithilfe von „Präqualifikationskriterien“ bei Windausschreibungen den europäischen Anteil an der Produktionskette erhöhen möchte, hält der BASF-CEO wenig: „Es gibt eine politische Diskussion, dass mit der Windkraft jetzt nicht die nächste Technologie (nach der Photovoltaik; die Red.) weggeht. Ich würde sagen: Die ist schon weg.“
 
„Die Chinesen sind technisch besser als wir.“ BASF-Chef Martin Brudermüller provozierte.
Quelle: BASF SE

Die Empörung aus der Branche folgte drei Tage später: „Wir sind sehr überrascht“, teilte der Dachverband Wind Europe mit. Andere Projektierer seien mit europäischen Windturbinen zufrieden. Europa sei mit einem eigenen „Ökosystem“ aus 250 Werken von OEM und Zulieferern der zweitgrößte Fertigungsstandort weltweit. Fast alle in Europa installierten Windräder seien (mindestens) auch hier montiert worden. Eine heimische Wertschöpfungskette sichere die Energieunabhängigkeit, niedrige Energiepreise und das Klimaneutralitätsziel.

Wie man das Rotorblatt auch dreht und wendet: Die großen westlichen OEM haben kommerzielle und teilweise auch technische Probleme. Siemens Energy bekam im November wegen der Verluste der Tochter Siemens Gamesa eine 7,5-Milliarden-Euro-Bürgschaft vom Bund, der dänische OEM-Weltmarktführer Vestas war im dritten Quartal neunstellig in den roten Zahlen und zehrte Kapital auf, und GE Vernova war zwar im dritten Quartal im Onshore-Windgeschäft profitabel, erwartet aber dennoch noch einen Milliardenverlust 2023.

Könnte technologisches Neuland den OEM helfen, mit der Energiewende wieder Geld zu verdienen? In der Herbstumfrage für das Branchenbarometer Wetix haben die gut 500 Befragten die technischen Einsparpotenziale erstmals geringer eingeschätzt als zuvor. Zum ersten Mal erwarteten sie für 2030 im Schnitt auch eine niedrigere installierte Leistung pro neuem Windrad von lediglich 18 MW offshore nach noch 18,8 MW im Frühjahr. Nur onshore gaben sie im Mittel 0,3 MW hinzu und kamen auf 8,5 MW. Derzeit ist man hierzulande grob bei 15 MW respektive 6 MW.

Die Trend Research, die den Wetix ermittelte, und ihr Auftraggeber, die Hamburger Messe Wind Energy, vermuten, dass hier der Kostendruck auf die OEM durch die wettbewerblichen Ausschreibungen und die Genehmigungsdauer eine Rolle spielt, aber auch Zweifel, ob Windtechnik überhaupt noch weiterentwickelbar sei. Oder ob die OEM und Projektierer im weltweiten Windkrafthochlauf einfach nur noch die vorhandene Technik skalieren wollen.

Neuer Forschungsleuchtturm im Ländle

Die deutsche Forschungslandschaft in der Windkraft jedenfalls ist 2023 um eine einzigartige Einrichtung reicher geworden: das Windkrafttestfeld Winsent (Wind Science and Engineering Test Site in Complex Terrain) auf der Schwäbischen Alb. Neuland daran ist etliches: Es ist das einzige Testfeld weltweit im Gebirge. Forscher und Industrie können zudem verbesserte Komponenten in einem der beiden Windkrafttürme unabhängig von den OEM vergleichend testen, weil das ZSW Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg die Türme aus Komponenten verschiedener Hersteller errichtet hat. Es existieren davon auch zwei digitale Zwillinge.

Gar auf KI basiert dort obendrein der Prototyp eines Vogeldetektionssystems, das die Windräder bei 97 Prozent der Anflüge von Rotmilanen rechtzeitig abschalten lässt. Neuland ist ebenfalls, dass Vogelkundler beim Herunterfahren oder Drosseln der Rotoren mitreden dürfen und dieses oder andere Anti-Kollissionssysteme aus ornithologischer Sicht mit zertifizieren. Ende 2023, so hoffte ZSW-Vorstand Frithjof Staiß im Oktober, werden die beiden Windräder den ersten Strom geliefert haben. Noch fehlte da bei einem Turm die Steuerung − Personalmangel beim IT-Dienstleister.

Auch die Windturbulenzen im Winsent auf der Alb sind groß. Schrägströmungen wechseln hin und her. „Das Gelände passt perfekt zu unseren Forschungsthemen“, sagte Projektleiter Andreas Rettenmeier bei der offiziellen Inbetriebnahme im September.

Was die Herzen von Wissenschaftlern wie Rettenmeier am Albtrauf höher schlagen lässt, ist ein handfestes Problem für Industrie, IT-Entwicklung, Windanlagenbetreiber, Stromnetzbetreiber und Energiesystemmodellierer: Windturbulenzen. Während Wirbeln und Böen kann sich nämlich die Stromerzeugung aus einer Windenergieanlage binnen Sekunden um mehr als 50 Prozent der Nennleistung erhöhen und mindern. Diese Schwankungen lassen das Material schneller ermüden und belasten das Netz. Und innerhalb eines Windparks schaukeln sie sich eher auf, als dass sie sich gegenseitig ausgleichen.

Neuland in der Wahrscheinlichkeitsrechnung

Bislang standen Forschende bei den Messdaten von Wind- und Rotationsgeschwindigkeit der Rotorblätter, von Zugkräften und vom Drehmoment des Generators vor Rätseln. Es war unklar, welche abrupten Veränderungen von der Turbulenz selbst stammen und welche von der Steuerung der Windenergieanlage. „Wir sprechen von (Daten-)Rauschen“, erklärte Pyei Phyo Lin, ein Physikingenieur aus Singapur in Oldenburg.

Pyei ist Hauptautor eines Aufsatzes, den ein interdisziplinäres Team aus der Uni Oldenburg und der Sharif University of Technology in Teheran im September veröffentlichte. Die vier Autoren lüfteten darin mit einer neu angewandten stochastischen Berechnungsmethode ein Geheimnis: Sie wiesen nach, dass für einen Gutteil des schnellen Rauf- und Runterfahrens die Steuerung verantwortlich war. Sie wechselte aufgrund wechselnder Eingangsdaten während der Windverwirbelungen ständig die Strategie. Zu häufig.
 
Der Computer animiert Windturbulenzen im Windkrafttestfest Winsent auf der Schwäbischen Alb. Allerdings ist das hier im Wesentlichen der Nachlauf hinter dem Windrad. Eine aktuelle Oldenburger Studie beschäftigt sich mit den Turbulenzen vor beziehungsweise auf der Anlage
Quelle: ZSW
 
Das Windkrafttestfeld Winsent auf der Alb ist in mehrerlei Hinsicht Neuland der angewandten Forschung
Quelle: E&M/Georg Eble

Mit ihrer neuen Methode der Wahrscheinlichkeitsrechnung gingen die Wissenschaftler an sekundenscharfe Wind-, Drehmoment- und Stromerzeugungsdaten aus einer achtmonatigen Messkampagne an einem 2-MW-Windrad von 2009/10 heran. Es müssen mehr als 60 Millionen Messdaten gewesen sein, ergibt ein E&M-Überschlag. Sie teilten sie in zwei Datenstränge und trennten so den Einfluss der Turbulenz selbst und den der Steuerreaktion. Zudem glichen sie sie mit elektrotechnischen Modellierungen ab.

Mitautoren der Studie „Discontinuous Jump Behavior of the Energy Conversion in Wind Energy Systems“ (etwa: „Unstetes Sprungverhalten in Windenergiesystemen bei der Energieumwandlung“) sind Matthias Wächter, Leiter der Arbeitsgruppe Stochastische Analyse an der Uni Oldenburg, der dortige Turbulenzexperte Joachim Peinke sowie Mohammad Reza Rahimi Tabar aus Teheran, derzeit Fellow am Hanse-Wissenschaftskolleg im ebenfalls niedersächsischen Delmenhorst.

E&M fragte die Uni Stuttgart und alle in Deutschland aktiven OEM um ihre Einschätzungen zur Studie. Po Wen Cheng, Leiter des Stuttgarter Lehrstuhls für Windenergie, antwortete, in Teillast würden die elektrischen Leistungsschwankungen „durch Drehzahländerung zum Teil abgefangen“. Bei Volllast dagegen versuche die Steuerung, die Leistung konstant zu halten, indem sie die Rotorblätter und ihren Winkel verstellt.

Po: „Weil wir nicht schnell genug pitchen bei sehr turbulentem Wind, spürt man das in Leistungsschwankungen. Der Übergangsbereich zwischen Teillast und Volllast ist immer noch eine Herausforderung“, räumte der Wissenschaftler ein, weil da die Regelungsstrategie wechsele. „Das Phänomen kennen wir schon lange“, erklärte Po sinngemäß. „Das Neue an der Veröffentlichung ist, dass man es mit einem mathematischem Modell beschreiben kann.“

Der Stuttgarter Ordinarius konstatiert allerdings ebenfalls, dass alte Steuerungen unterm Strich „funktionieren“. Das sehe man daran, dass sich die meisten Windenergieanlagen über ihre Auslegungsdauer von 20 Jahren hinaus weiterdrehen. Die Regelungsstrategie stehe teilweise in einem Zielkonflikt, einerseits die kinetische Energie des Windes so effizient wie möglich in Strom umzuwandeln und andererseits die „Ermüdungslasten“ zu reduzieren. Ein zu häufiger oder zu schneller Wechsel erhöhe diese durchaus.

Mit den höheren Nennleistungen von heute würden aber auch die Schwankungen durch Turbulenzen geringer, „weil die größere Anlage eine größere Trägheit hat und die kleinen turbulenten Wirbel keinen Einfluss auf einen großen Rotor haben“.
Die Uni Stuttgart, berichtet Po, setzt Modelle des Maschinellen Lernens (ML) ein, um „komplexe und zeitraubende Simulationen“ zu ersetzen, etwa zu den Lasten von Windenergieanlagen oder zu Strömungen.

Eno und Siemens Gamesa äußern sich

Von den OEM wollte GE Vernova derzeit ausdrücklich nicht Stellung nehmen; es antworteten die Eno-Energy-Gruppe und Siemens Gamesa. Eno Energy aus Rostock, die Onshore-Windenergieanlagen zwischen 2 und 6 MW herstellt, untersucht derzeit, ob sie Maschinelles Lernen und ähnliche Methoden künftig in „verschiedenen Komponenten“ ihrer Anlagen einsetzt, heißt es gegenüber E&M.

Die Erkenntnisse der Oldenburger Forscher lassen in Rostock aufhorchen: Sie „können Auswirkungen auf künftige Regelungsstrategien unserer Windenergieanlagen haben“, heißt es weiter. Eno-Regelungen minimierten bei Turbulenzen die (Strom-)Ertragsverluste und orientierten sich an den Vorgaben der Netzbetreiber und der IEC 61400. Die Oldenburger Forscher bekräftigten dagegen ihre mehr als ein Jahrzehnt alte Kritik an der Norm, sie „erfasst die Schwankungsbreiten von Wind und Windstrom nicht angemessen“.

Siemens Gamesa verweist darauf, dass man einige optionale Regelungen im Programm hat. Eine davon dreht die Rotorblätter typischerweise bei 25 km/h aus dem Wind und lässt sie nur langsam auslaufen, eine andere stellt bei Sturm auf Teillast um, beides, um eine Trennung vom Netz zu vermeiden. Eine andere fängt bei Anlagen mit „Siemens-Gamesa-DNA“ Böen im Volllastbereich ab. Zu dieser „DNA“ gehören die Marken Siemens Wind Power, Gamesa, Senvion und natürlich auch SGRE. Wie jene 139 in „Hollandse Kust Zuid“.

Freitag, 15.12.2023, 08:45 Uhr
Georg Eble
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung - Mit Stochastik raus aus den Windturbulenzen
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung
Mit Stochastik raus aus den Windturbulenzen
Die Windturbinenbauer sind in Turbulenzen. Aber auch meteorologische Windverwirbelungen setzen den Anlagen zu. Und dem Netz. Ein Oldenburger Forscherteam hat einen Ausweg gefunden.
Das saß. „Die Chinesen sind technisch besser als wir und sie sind auch kostengünstiger als wir“, sagte BASF-Chef Martin Brudermüller im November zu Journalisten. Ein Frontalangriff auf die europäischen Windturbinenhersteller. Der Chemiemanager fischte nicht in ganz fremden Gewässern: Er verantwortet eine Finanzbeteiligung am derzeit größten Windpark der Welt „Hollandse Kust Zuid“ mit 139 Windrädern, die zusammen 1.500 MW leisten. Und er hat den direkten operativen Vergleich mit China, denn dort errichtet die BASF selbst mit chinesischen Herstellern (OEM) Windparks.

Im selben Atemzug versuchte Brudermüller, die gängige Begründung für den vom ihm behaupteten Qualitäts- und Preisvorsprung der Chinesen zu zerstören. Er liege eben nicht an Preisdumping und chinesischen Subventionen. Von dem aktuellen „Wind Power Package“, mit dem die EU mithilfe von „Präqualifikationskriterien“ bei Windausschreibungen den europäischen Anteil an der Produktionskette erhöhen möchte, hält der BASF-CEO wenig: „Es gibt eine politische Diskussion, dass mit der Windkraft jetzt nicht die nächste Technologie (nach der Photovoltaik; die Red.) weggeht. Ich würde sagen: Die ist schon weg.“
 
„Die Chinesen sind technisch besser als wir.“ BASF-Chef Martin Brudermüller provozierte.
Quelle: BASF SE

Die Empörung aus der Branche folgte drei Tage später: „Wir sind sehr überrascht“, teilte der Dachverband Wind Europe mit. Andere Projektierer seien mit europäischen Windturbinen zufrieden. Europa sei mit einem eigenen „Ökosystem“ aus 250 Werken von OEM und Zulieferern der zweitgrößte Fertigungsstandort weltweit. Fast alle in Europa installierten Windräder seien (mindestens) auch hier montiert worden. Eine heimische Wertschöpfungskette sichere die Energieunabhängigkeit, niedrige Energiepreise und das Klimaneutralitätsziel.

Wie man das Rotorblatt auch dreht und wendet: Die großen westlichen OEM haben kommerzielle und teilweise auch technische Probleme. Siemens Energy bekam im November wegen der Verluste der Tochter Siemens Gamesa eine 7,5-Milliarden-Euro-Bürgschaft vom Bund, der dänische OEM-Weltmarktführer Vestas war im dritten Quartal neunstellig in den roten Zahlen und zehrte Kapital auf, und GE Vernova war zwar im dritten Quartal im Onshore-Windgeschäft profitabel, erwartet aber dennoch noch einen Milliardenverlust 2023.

Könnte technologisches Neuland den OEM helfen, mit der Energiewende wieder Geld zu verdienen? In der Herbstumfrage für das Branchenbarometer Wetix haben die gut 500 Befragten die technischen Einsparpotenziale erstmals geringer eingeschätzt als zuvor. Zum ersten Mal erwarteten sie für 2030 im Schnitt auch eine niedrigere installierte Leistung pro neuem Windrad von lediglich 18 MW offshore nach noch 18,8 MW im Frühjahr. Nur onshore gaben sie im Mittel 0,3 MW hinzu und kamen auf 8,5 MW. Derzeit ist man hierzulande grob bei 15 MW respektive 6 MW.

Die Trend Research, die den Wetix ermittelte, und ihr Auftraggeber, die Hamburger Messe Wind Energy, vermuten, dass hier der Kostendruck auf die OEM durch die wettbewerblichen Ausschreibungen und die Genehmigungsdauer eine Rolle spielt, aber auch Zweifel, ob Windtechnik überhaupt noch weiterentwickelbar sei. Oder ob die OEM und Projektierer im weltweiten Windkrafthochlauf einfach nur noch die vorhandene Technik skalieren wollen.

Neuer Forschungsleuchtturm im Ländle

Die deutsche Forschungslandschaft in der Windkraft jedenfalls ist 2023 um eine einzigartige Einrichtung reicher geworden: das Windkrafttestfeld Winsent (Wind Science and Engineering Test Site in Complex Terrain) auf der Schwäbischen Alb. Neuland daran ist etliches: Es ist das einzige Testfeld weltweit im Gebirge. Forscher und Industrie können zudem verbesserte Komponenten in einem der beiden Windkrafttürme unabhängig von den OEM vergleichend testen, weil das ZSW Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg die Türme aus Komponenten verschiedener Hersteller errichtet hat. Es existieren davon auch zwei digitale Zwillinge.

Gar auf KI basiert dort obendrein der Prototyp eines Vogeldetektionssystems, das die Windräder bei 97 Prozent der Anflüge von Rotmilanen rechtzeitig abschalten lässt. Neuland ist ebenfalls, dass Vogelkundler beim Herunterfahren oder Drosseln der Rotoren mitreden dürfen und dieses oder andere Anti-Kollissionssysteme aus ornithologischer Sicht mit zertifizieren. Ende 2023, so hoffte ZSW-Vorstand Frithjof Staiß im Oktober, werden die beiden Windräder den ersten Strom geliefert haben. Noch fehlte da bei einem Turm die Steuerung − Personalmangel beim IT-Dienstleister.

Auch die Windturbulenzen im Winsent auf der Alb sind groß. Schrägströmungen wechseln hin und her. „Das Gelände passt perfekt zu unseren Forschungsthemen“, sagte Projektleiter Andreas Rettenmeier bei der offiziellen Inbetriebnahme im September.

Was die Herzen von Wissenschaftlern wie Rettenmeier am Albtrauf höher schlagen lässt, ist ein handfestes Problem für Industrie, IT-Entwicklung, Windanlagenbetreiber, Stromnetzbetreiber und Energiesystemmodellierer: Windturbulenzen. Während Wirbeln und Böen kann sich nämlich die Stromerzeugung aus einer Windenergieanlage binnen Sekunden um mehr als 50 Prozent der Nennleistung erhöhen und mindern. Diese Schwankungen lassen das Material schneller ermüden und belasten das Netz. Und innerhalb eines Windparks schaukeln sie sich eher auf, als dass sie sich gegenseitig ausgleichen.

Neuland in der Wahrscheinlichkeitsrechnung

Bislang standen Forschende bei den Messdaten von Wind- und Rotationsgeschwindigkeit der Rotorblätter, von Zugkräften und vom Drehmoment des Generators vor Rätseln. Es war unklar, welche abrupten Veränderungen von der Turbulenz selbst stammen und welche von der Steuerung der Windenergieanlage. „Wir sprechen von (Daten-)Rauschen“, erklärte Pyei Phyo Lin, ein Physikingenieur aus Singapur in Oldenburg.

Pyei ist Hauptautor eines Aufsatzes, den ein interdisziplinäres Team aus der Uni Oldenburg und der Sharif University of Technology in Teheran im September veröffentlichte. Die vier Autoren lüfteten darin mit einer neu angewandten stochastischen Berechnungsmethode ein Geheimnis: Sie wiesen nach, dass für einen Gutteil des schnellen Rauf- und Runterfahrens die Steuerung verantwortlich war. Sie wechselte aufgrund wechselnder Eingangsdaten während der Windverwirbelungen ständig die Strategie. Zu häufig.
 
Der Computer animiert Windturbulenzen im Windkrafttestfest Winsent auf der Schwäbischen Alb. Allerdings ist das hier im Wesentlichen der Nachlauf hinter dem Windrad. Eine aktuelle Oldenburger Studie beschäftigt sich mit den Turbulenzen vor beziehungsweise auf der Anlage
Quelle: ZSW
 
Das Windkrafttestfeld Winsent auf der Alb ist in mehrerlei Hinsicht Neuland der angewandten Forschung
Quelle: E&M/Georg Eble

Mit ihrer neuen Methode der Wahrscheinlichkeitsrechnung gingen die Wissenschaftler an sekundenscharfe Wind-, Drehmoment- und Stromerzeugungsdaten aus einer achtmonatigen Messkampagne an einem 2-MW-Windrad von 2009/10 heran. Es müssen mehr als 60 Millionen Messdaten gewesen sein, ergibt ein E&M-Überschlag. Sie teilten sie in zwei Datenstränge und trennten so den Einfluss der Turbulenz selbst und den der Steuerreaktion. Zudem glichen sie sie mit elektrotechnischen Modellierungen ab.

Mitautoren der Studie „Discontinuous Jump Behavior of the Energy Conversion in Wind Energy Systems“ (etwa: „Unstetes Sprungverhalten in Windenergiesystemen bei der Energieumwandlung“) sind Matthias Wächter, Leiter der Arbeitsgruppe Stochastische Analyse an der Uni Oldenburg, der dortige Turbulenzexperte Joachim Peinke sowie Mohammad Reza Rahimi Tabar aus Teheran, derzeit Fellow am Hanse-Wissenschaftskolleg im ebenfalls niedersächsischen Delmenhorst.

E&M fragte die Uni Stuttgart und alle in Deutschland aktiven OEM um ihre Einschätzungen zur Studie. Po Wen Cheng, Leiter des Stuttgarter Lehrstuhls für Windenergie, antwortete, in Teillast würden die elektrischen Leistungsschwankungen „durch Drehzahländerung zum Teil abgefangen“. Bei Volllast dagegen versuche die Steuerung, die Leistung konstant zu halten, indem sie die Rotorblätter und ihren Winkel verstellt.

Po: „Weil wir nicht schnell genug pitchen bei sehr turbulentem Wind, spürt man das in Leistungsschwankungen. Der Übergangsbereich zwischen Teillast und Volllast ist immer noch eine Herausforderung“, räumte der Wissenschaftler ein, weil da die Regelungsstrategie wechsele. „Das Phänomen kennen wir schon lange“, erklärte Po sinngemäß. „Das Neue an der Veröffentlichung ist, dass man es mit einem mathematischem Modell beschreiben kann.“

Der Stuttgarter Ordinarius konstatiert allerdings ebenfalls, dass alte Steuerungen unterm Strich „funktionieren“. Das sehe man daran, dass sich die meisten Windenergieanlagen über ihre Auslegungsdauer von 20 Jahren hinaus weiterdrehen. Die Regelungsstrategie stehe teilweise in einem Zielkonflikt, einerseits die kinetische Energie des Windes so effizient wie möglich in Strom umzuwandeln und andererseits die „Ermüdungslasten“ zu reduzieren. Ein zu häufiger oder zu schneller Wechsel erhöhe diese durchaus.

Mit den höheren Nennleistungen von heute würden aber auch die Schwankungen durch Turbulenzen geringer, „weil die größere Anlage eine größere Trägheit hat und die kleinen turbulenten Wirbel keinen Einfluss auf einen großen Rotor haben“.
Die Uni Stuttgart, berichtet Po, setzt Modelle des Maschinellen Lernens (ML) ein, um „komplexe und zeitraubende Simulationen“ zu ersetzen, etwa zu den Lasten von Windenergieanlagen oder zu Strömungen.

Eno und Siemens Gamesa äußern sich

Von den OEM wollte GE Vernova derzeit ausdrücklich nicht Stellung nehmen; es antworteten die Eno-Energy-Gruppe und Siemens Gamesa. Eno Energy aus Rostock, die Onshore-Windenergieanlagen zwischen 2 und 6 MW herstellt, untersucht derzeit, ob sie Maschinelles Lernen und ähnliche Methoden künftig in „verschiedenen Komponenten“ ihrer Anlagen einsetzt, heißt es gegenüber E&M.

Die Erkenntnisse der Oldenburger Forscher lassen in Rostock aufhorchen: Sie „können Auswirkungen auf künftige Regelungsstrategien unserer Windenergieanlagen haben“, heißt es weiter. Eno-Regelungen minimierten bei Turbulenzen die (Strom-)Ertragsverluste und orientierten sich an den Vorgaben der Netzbetreiber und der IEC 61400. Die Oldenburger Forscher bekräftigten dagegen ihre mehr als ein Jahrzehnt alte Kritik an der Norm, sie „erfasst die Schwankungsbreiten von Wind und Windstrom nicht angemessen“.

Siemens Gamesa verweist darauf, dass man einige optionale Regelungen im Programm hat. Eine davon dreht die Rotorblätter typischerweise bei 25 km/h aus dem Wind und lässt sie nur langsam auslaufen, eine andere stellt bei Sturm auf Teillast um, beides, um eine Trennung vom Netz zu vermeiden. Eine andere fängt bei Anlagen mit „Siemens-Gamesa-DNA“ Böen im Volllastbereich ab. Zu dieser „DNA“ gehören die Marken Siemens Wind Power, Gamesa, Senvion und natürlich auch SGRE. Wie jene 139 in „Hollandse Kust Zuid“.

Freitag, 15.12.2023, 08:45 Uhr
Georg Eble

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