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Energie & Management > Aus Der Aktuellen Ausgabe - Justitia bläst immer mehr Wind um die Ohren
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Aus Der Aktuellen Ausgabe

Justitia bläst immer mehr Wind um die Ohren

Mehr Windkraftanlagen bedeuten auch mehr Rechtsstreit. Es kommt zu kurzen Prozessen, zu langen, abgesagten, absurden und teuren. Ein Blick ins Innenleben deutscher Gerichte.
An diesem Freitag im Januar herrscht viel Wind auf den Fluren des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster. Justitia steht hier allerdings nicht im Durchzug. Das schmucklose Gerichtsgebäude im Schatten der bald 300 Jahre alten Aegidiikirche hält der Eiseskälte stand. Vielmehr verhandeln die zuständigen Senate an einem Tag gleich drei Fälle, die sich sämtlich um geplante Windkraftanlagen ranken. Hier in Münster, an einem von 15 obersten Verwaltungsgerichten der Republik, trudelte 2023 fast jeden dritten Tag ein neues Windverfahren ein. 111 frische Klagen statt zuvor 61 bedeuten fast eine Verdopplung gegenüber 2022. So wie die Energiewende für ihr Gelingen beständige Luftströme benötigt, sorgt sie in den Sitzungssälen deutscher Gerichte regelmäßig für Turbulenzen.

Häufig bleibt indes nur heiße Luft. Wie in Saal III des nordrhein-westfälischen OVG. Dort beschleicht einen die Ahnung, welcher Marathon bereits hinter den Beteiligten liegt, ehe es überhaupt zu einer Verhandlung kommt. Aktenberge sind Betreiberfirmen wie die Plan 8 GmbH aus Eckernförde von Stunde eins an gewohnt, sobald sie eine Turbine errichten wollen. 40 Ordner füllen die Genehmigungsanträge für eine Anlage nicht selten, weil über Monate und Jahre hinweg eine Menge Gutachten einzuholen und enorm viele Vorschriften einzuhalten sind. Im Rechtsstreit kommen dann weitere Akten hinzu. Gegen Anlagen, wie die von Plan 8 im lippischen Kalletal vorgesehene etwa, verfasst der Anwalt der gegnerischen Seite, Thomas Mock, gerne mal Schriftsätze von ein paar Hundert Seiten.

Klagebegründung strotzt nur so vor Fehlern

Hans-Joachim Hüwelmeier benötigt folglich an die 20 Minuten, um alle eingereichten Einwände zumindest gestreift zu haben. Das ist der Job des Gerichts, zu Beginn in einem Sachbericht zunächst den Fall und die formulierten Klagegründe darzustellen. Heute hadert der Vorsitzende Richter des 22. Senats offensichtlich ein wenig mit dieser Aufgabe. Die Klagebegründung strotzt nur so vor Fehlern. Im Auftrag des nicht anwesenden Klägers, einem Privatmann, hatte der Anwalt zu großen Lärm angeführt, die Umgebung sei durch einen Flughafen und eine Autobahn in der Nähe bereits umfassend vorbelastet. Auch rücke das Windkraftwerk, dessen Rotoren einen Durchmesser von 105 Metern hätten, mit 750 Metern zu dicht an das Wohnhaus heran.

Nichts davon stimmt. Es gibt ringsum weder Airport noch Schnellstraße; die Turbine hält einen − selbst nach früherer Gesetzeslage − ausreichenden Abstand von über 1.000 Metern ein; und den Wert für den Rotordurchmesser hat der Anwalt mit der Nabenhöhe verwechselt. Es scheint, als sei die Klagebegründung schludrig aus einem anderen Prozess kopiert, schließlich stellt der Rechtsvertreter aus Königswinter sich ab und an in den Dienst von organisierten Windkraftgegnern. „Einen sachgerechten Vortrag kann man erwarten“, sagt Richter Hans-Joachim Hüwelmeier in Richtung Anwalt. Dem bleibt nichts anderes, als sich zu entschuldigen. Die Punkte lassen sich flugs korrigieren − und scheitern dennoch auf ganzer Linie.

Dass eine Sachlage wie diese nicht in die Geschichte bedeutender Rechtsprechung eingehen wird, lässt sich häufig schon dem Aushang vor dem Sitzungssaal entnehmen. Dort steht für den 22. Senat nur ein Name: Hans-Joachim Hüwelmeier, er kommt als Einzelrichter. Sobald Fälle komplexer sind und möglicherweise einer intensiven Erörterung und Beratung bedürfen, tritt ein Senat vollständig auf, mit drei hauptberuflichen und zwei ehrenamtlichen Richtern. Wessen Argumente auf tönernen Füßen stehen, der ahnt bei Einzelrichterbesetzung also, was ihm blüht. Thomas Mock jedenfalls hat − wie die Vertreter des beklagten Kreises Lippe und des beigeladenen Windkraftunternehmens − die Urteilsverkündung gar nicht mehr abgewartet. Hans-Joachim Hüwelmeier weist die Klage „im Namen des Volkes“ vor einem fast leeren Saal ab, er spricht zur Protokollantin und zu genau einem Medienvertreter.

Die Zeche hat der unterlegene Kläger zu tragen. Der Streitwert beträgt hier 15.000 Euro für die eine rechtlich angegriffene Windkraftanlage. Daraus ergibt sich anhand der Gebührentabellen für Gerichtskosten und Rechtsanwaltsvergütung die Schlussrechnung. Etwa 1.300 Euro gehen ans Gericht, 2.400 Euro netto sind für die Anwälte der Gewinnerseite zu zahlen, sofern diese − das ist der Regelfall − den Antrag auf Kostenübernahme gestellt hat. Hinzu kommt der Betrag für die eigene Kanzlei, was das Soll leicht auf über 6.000 Euro erhöhen kann. Und dies sind nur die „günstigen“ Prozesse.

Klagt etwa ein Betreiber gegen einen Landkreis auf Genehmigung von zwei Anlagen, sind die Herstellungskosten von rund 10 Millionen Euro die Ausgangsgröße. Der Streitwert beträgt dann 10 Prozent, also ungefähr 1 Million Euro. Bei einer Niederlage sind folglich rund 17.000 Euro für die Anwälte der anderen Partei fällig, mitsamt Gerichtskosten landet man schnell bei knapp 60.000 Euro. Und wer klagt, muss vorab die Gerichtskosten von gut 23.000 Euro als Sicherheit überweisen, sozusagen für die Eintrittskarte zur Verhandlung.

Bei Hunderten von Prozessen pro Jahr in Deutschland ist der Windkraftausbau längst auch für Rechtsvertretungen ein interessantes Standbein geworden. Franz-Josef Tigges schätzt die Zahl der aufs Erneuerbaren-Recht spezialisierten Kanzleien, deren Expertise regelmäßig in Verfahren gefragt ist, auf knapp ein Dutzend. Er selbst gehört der Lippstädter Sozietät Engemann und Partner an und hat vor einem Vierteljahrhundert am Aufbau des juristischen Beirats innerhalb des Bundesverbands Windenergie (BWE) mitgewirkt. Der Branchenverband nutzt den Beirat als Plattform, um mit Fachanwälten regelmäßig die aktuelle Rechtsprechung zu analysieren, die an den Verfassungsgerichten je nach Bundesland durchaus unterschiedlich ausfallen kann.

Privatleute führen häufig Abstandsregelungen ins Feld

Bei der Windkraft sind seit der Jahrtausendwende vielfältige Themen zum Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen geworden. Privatleute führen häufig Abstandsregelungen ins Feld, fühlen sich durch die Nähe von immer höher werdenden Anlagen optisch bedrängt, zu starkem Lärm, Infra- oder Körperschall ausgesetzt. Naturschutzverbände sorgen sich um Landschaft, Schutzgebiete und Tiere. Schließlich beharken Betreibergesellschaften sich auch untereinander. Dann geht es um Fragen, ob Anlagen sich gegenseitig im Wind stehen oder die Standsicherheit der Anlagen in Windparks gewährleistet ist.

Solcherlei Probleme und Einwände zu klären, kostet Zeit, erst recht, wenn Gerichte sich letztlich damit beschäftigen müssen. Zeit aber ist etwas, das die Energiewende in den Augen von Befürwortern wie der amtierenden Ampelkoalition in Berlin nicht hat. Ein Versuch, den Windkraftzubau zu beschleunigen, liegt auf prozessualer Ebene. Neue Windkraftfälle landen seit Ende 2020 ohne Umweg bei den Oberverwaltungsgerichten, die Verwaltungsgerichte sind als Vorinstanzen ausgeschlossen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalens hat reagiert und mehr Richterstellen finanziert, wodurch das OVG einen reinen Windkraft-Senat einrichten konnte, der neben den Mischsenaten 7 und 8 eingehende Klagen behandelt. Hessen ist diesem Beispiel gefolgt und hat zum 1. April 2023 am Verwaltungsgerichtshof einen neuen Senat mit drei zusätzlichen Richterstellen geschaffen, mit Schwerpunkt Windkraft.

Schließlich hat die Bundesregierung mit Paragraf 2 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) einen rechtlichen Beschleunigungshebel installiert. Wenn Schutzgüter gegeneinander abzuwägen sind, soll der Ausbau der Erneuerbaren in der Regel Vorrang haben, weil diese von „überragendem öffentlichem Interesse“ seien. Entfernt dieser Passus also Bremsklötze für die Windkraft? Die zunehmenden Klagen im Land sprechen dagegen. Franz-Josef Tigges hat eine Erklärung: „Ein neues Gesetz ist die eine Sache. Die andere ist, dass wir für mehr Rechtssicherheit von Windkraftvorhaben auch entsprechende Urteile benötigen.“

Was er meint: Paragraf 2 EEG muss in neuen Verfahren und der Rechtsprechung Anwendung finden, um damit Orientierung zu schaffen. Als das OVG Münster zum Beispiel wie 2023 Windkraft über Denkmalschutz stellte und eine optische Beeinträchtigung von Schloss Lembeck (Dorsten) verwarf, war Paragraf 2 ausschlaggebend − was anderen Gerichten als Leitplanke dient. Auch könnten weitere Schlossbeschützer von Klagen absehen, weil sie aussichtslos erscheinen. Allerdings zeigt die Praxis, dass erfolgte Richtersprüche die Gegner der Windkraft nicht unbedingt davon abhalten, den Ausnahmestatus des eigenen Falles zu betonen und auf Prozess und Urteil zu drängen.

Stromleitungen können „Korona“ bekommen

Und schließlich können gut gemeinte Gesetze auch so formuliert sein, dass sie mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Wie zuletzt an jenem Freitag am OVG Münster, als ein neuer Paragraf des Energiewirtschaftsgesetzes den 8. Senat beschäftigte. Stromleitungen können „Korona“ bekommen, war eine erste, die Laien überraschende Erkenntnis. Damit ist ein Brummton gemeint. Er entsteht an den Hochspannungskabeln, wenn Feuchtigkeit sich an ihnen absetzt und die Energie auf die Umgebungsluft einwirkt.

Das mögliche Brummen nahm ein Windkraftgegner aus dem westfälischen Ahlen als Argument, zwei geplante Turbinen zu verhindern. Deren Geräuschkulisse und das Korona-Brummen wären zusammen des Guten zu viel, meinte der Hausbesitzer. Weil das Gesetz hier Lücken lässt, musste der 8. Senat unter Vorsitz von Annette Kleinschnittger entscheiden, ob Leitungskorona selten im Sinne des Gesetzes vorkommt. Dann wäre nachts eine höhere Lärmbelastung von maximal 55 dB(A) zulässig, bei der die Windenergieanlagen nicht ins Gewicht fallen. Andernfalls hätten die Turbinen immer nachts bei Schnee und Regen stillzustehen. Das Gericht erkannte die Seltenheit von Korona an Stromtrassen an und gestattete damit den Weiterbau der Anlagen.

Im dritten Fall des Tages musste Annette Kleinschnittger gar nicht erst tätig werden. Eine Klägerpartei hatte ihren Widerstand gegen eine Anlage in Porta Westfalica aufgegeben. So weit nichts Ungewohntes an Gerichten, in Münster etwa erkennt das OVG einen „beachtlichen Trend“ zu Prozessen ohne Urteil. Etwa 80 Prozent der Fälle lassen sich zwischenzeitlich über Vergleiche oder Rücknahme von Klagen erledigen. Das ist durchaus im Sinne der Gerichte, an dem Januar-Freitag aber nur bedingt. Denn diesmal flatterte der Rückzieher knapp vor Verhandlungsbeginn per Mail herein, nach dem Geschmack vieler viel zu kurzfristig. Rechtsvertreter und Medien aus Ostwestfalen hatten sich längst zur Anfahrt auf die Autobahn begeben.

Untätig zu bleiben, kann bei Gerichten also Zeitgewinn bedeuten. Das gilt nicht für Genehmigungsbehörden. Siehe Mecklenburg-Vorpommern. Hier klagen Windkraftunternehmen über und gegen die Langsamkeit des Staatlichen Amts für Landwirtschaft und Umweltschutz Westmecklenburg (Stalu WM). Die Behörde benötigt im Schnitt 16 Monate, um vorliegende Anträge für Turbinen abzulehnen oder zu genehmigen. Erlaubt sind maximal sieben Monate. Entsprechend hatte das OVG Greifswald 2023 über rund 20 (!) Untätigkeitsklagen gegen das Stalu WM zu entscheiden. Ob die Anlagen im Falle der Genehmigung später noch einmal vor Gericht landen, weil jemand − siehe oben − etwas gegen sie einzuwenden hat, ist eine andere Geschichte deutscher Windkraftrechtsprechung.

 
Fast ein zweites Zuhause: Der Rechtsanwalt und Fachmann für Windenergierecht Franz-Josef Tigges ist Stammgast am Oberverwaltungsgericht Münster
Quelle: Volker Stephan

 

Mittwoch, 7.02.2024, 08:50 Uhr
Volker Stephan
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Ausgabe - Justitia bläst immer mehr Wind um die Ohren
Quelle: Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Ausgabe
Justitia bläst immer mehr Wind um die Ohren
Mehr Windkraftanlagen bedeuten auch mehr Rechtsstreit. Es kommt zu kurzen Prozessen, zu langen, abgesagten, absurden und teuren. Ein Blick ins Innenleben deutscher Gerichte.
An diesem Freitag im Januar herrscht viel Wind auf den Fluren des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster. Justitia steht hier allerdings nicht im Durchzug. Das schmucklose Gerichtsgebäude im Schatten der bald 300 Jahre alten Aegidiikirche hält der Eiseskälte stand. Vielmehr verhandeln die zuständigen Senate an einem Tag gleich drei Fälle, die sich sämtlich um geplante Windkraftanlagen ranken. Hier in Münster, an einem von 15 obersten Verwaltungsgerichten der Republik, trudelte 2023 fast jeden dritten Tag ein neues Windverfahren ein. 111 frische Klagen statt zuvor 61 bedeuten fast eine Verdopplung gegenüber 2022. So wie die Energiewende für ihr Gelingen beständige Luftströme benötigt, sorgt sie in den Sitzungssälen deutscher Gerichte regelmäßig für Turbulenzen.

Häufig bleibt indes nur heiße Luft. Wie in Saal III des nordrhein-westfälischen OVG. Dort beschleicht einen die Ahnung, welcher Marathon bereits hinter den Beteiligten liegt, ehe es überhaupt zu einer Verhandlung kommt. Aktenberge sind Betreiberfirmen wie die Plan 8 GmbH aus Eckernförde von Stunde eins an gewohnt, sobald sie eine Turbine errichten wollen. 40 Ordner füllen die Genehmigungsanträge für eine Anlage nicht selten, weil über Monate und Jahre hinweg eine Menge Gutachten einzuholen und enorm viele Vorschriften einzuhalten sind. Im Rechtsstreit kommen dann weitere Akten hinzu. Gegen Anlagen, wie die von Plan 8 im lippischen Kalletal vorgesehene etwa, verfasst der Anwalt der gegnerischen Seite, Thomas Mock, gerne mal Schriftsätze von ein paar Hundert Seiten.

Klagebegründung strotzt nur so vor Fehlern

Hans-Joachim Hüwelmeier benötigt folglich an die 20 Minuten, um alle eingereichten Einwände zumindest gestreift zu haben. Das ist der Job des Gerichts, zu Beginn in einem Sachbericht zunächst den Fall und die formulierten Klagegründe darzustellen. Heute hadert der Vorsitzende Richter des 22. Senats offensichtlich ein wenig mit dieser Aufgabe. Die Klagebegründung strotzt nur so vor Fehlern. Im Auftrag des nicht anwesenden Klägers, einem Privatmann, hatte der Anwalt zu großen Lärm angeführt, die Umgebung sei durch einen Flughafen und eine Autobahn in der Nähe bereits umfassend vorbelastet. Auch rücke das Windkraftwerk, dessen Rotoren einen Durchmesser von 105 Metern hätten, mit 750 Metern zu dicht an das Wohnhaus heran.

Nichts davon stimmt. Es gibt ringsum weder Airport noch Schnellstraße; die Turbine hält einen − selbst nach früherer Gesetzeslage − ausreichenden Abstand von über 1.000 Metern ein; und den Wert für den Rotordurchmesser hat der Anwalt mit der Nabenhöhe verwechselt. Es scheint, als sei die Klagebegründung schludrig aus einem anderen Prozess kopiert, schließlich stellt der Rechtsvertreter aus Königswinter sich ab und an in den Dienst von organisierten Windkraftgegnern. „Einen sachgerechten Vortrag kann man erwarten“, sagt Richter Hans-Joachim Hüwelmeier in Richtung Anwalt. Dem bleibt nichts anderes, als sich zu entschuldigen. Die Punkte lassen sich flugs korrigieren − und scheitern dennoch auf ganzer Linie.

Dass eine Sachlage wie diese nicht in die Geschichte bedeutender Rechtsprechung eingehen wird, lässt sich häufig schon dem Aushang vor dem Sitzungssaal entnehmen. Dort steht für den 22. Senat nur ein Name: Hans-Joachim Hüwelmeier, er kommt als Einzelrichter. Sobald Fälle komplexer sind und möglicherweise einer intensiven Erörterung und Beratung bedürfen, tritt ein Senat vollständig auf, mit drei hauptberuflichen und zwei ehrenamtlichen Richtern. Wessen Argumente auf tönernen Füßen stehen, der ahnt bei Einzelrichterbesetzung also, was ihm blüht. Thomas Mock jedenfalls hat − wie die Vertreter des beklagten Kreises Lippe und des beigeladenen Windkraftunternehmens − die Urteilsverkündung gar nicht mehr abgewartet. Hans-Joachim Hüwelmeier weist die Klage „im Namen des Volkes“ vor einem fast leeren Saal ab, er spricht zur Protokollantin und zu genau einem Medienvertreter.

Die Zeche hat der unterlegene Kläger zu tragen. Der Streitwert beträgt hier 15.000 Euro für die eine rechtlich angegriffene Windkraftanlage. Daraus ergibt sich anhand der Gebührentabellen für Gerichtskosten und Rechtsanwaltsvergütung die Schlussrechnung. Etwa 1.300 Euro gehen ans Gericht, 2.400 Euro netto sind für die Anwälte der Gewinnerseite zu zahlen, sofern diese − das ist der Regelfall − den Antrag auf Kostenübernahme gestellt hat. Hinzu kommt der Betrag für die eigene Kanzlei, was das Soll leicht auf über 6.000 Euro erhöhen kann. Und dies sind nur die „günstigen“ Prozesse.

Klagt etwa ein Betreiber gegen einen Landkreis auf Genehmigung von zwei Anlagen, sind die Herstellungskosten von rund 10 Millionen Euro die Ausgangsgröße. Der Streitwert beträgt dann 10 Prozent, also ungefähr 1 Million Euro. Bei einer Niederlage sind folglich rund 17.000 Euro für die Anwälte der anderen Partei fällig, mitsamt Gerichtskosten landet man schnell bei knapp 60.000 Euro. Und wer klagt, muss vorab die Gerichtskosten von gut 23.000 Euro als Sicherheit überweisen, sozusagen für die Eintrittskarte zur Verhandlung.

Bei Hunderten von Prozessen pro Jahr in Deutschland ist der Windkraftausbau längst auch für Rechtsvertretungen ein interessantes Standbein geworden. Franz-Josef Tigges schätzt die Zahl der aufs Erneuerbaren-Recht spezialisierten Kanzleien, deren Expertise regelmäßig in Verfahren gefragt ist, auf knapp ein Dutzend. Er selbst gehört der Lippstädter Sozietät Engemann und Partner an und hat vor einem Vierteljahrhundert am Aufbau des juristischen Beirats innerhalb des Bundesverbands Windenergie (BWE) mitgewirkt. Der Branchenverband nutzt den Beirat als Plattform, um mit Fachanwälten regelmäßig die aktuelle Rechtsprechung zu analysieren, die an den Verfassungsgerichten je nach Bundesland durchaus unterschiedlich ausfallen kann.

Privatleute führen häufig Abstandsregelungen ins Feld

Bei der Windkraft sind seit der Jahrtausendwende vielfältige Themen zum Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen geworden. Privatleute führen häufig Abstandsregelungen ins Feld, fühlen sich durch die Nähe von immer höher werdenden Anlagen optisch bedrängt, zu starkem Lärm, Infra- oder Körperschall ausgesetzt. Naturschutzverbände sorgen sich um Landschaft, Schutzgebiete und Tiere. Schließlich beharken Betreibergesellschaften sich auch untereinander. Dann geht es um Fragen, ob Anlagen sich gegenseitig im Wind stehen oder die Standsicherheit der Anlagen in Windparks gewährleistet ist.

Solcherlei Probleme und Einwände zu klären, kostet Zeit, erst recht, wenn Gerichte sich letztlich damit beschäftigen müssen. Zeit aber ist etwas, das die Energiewende in den Augen von Befürwortern wie der amtierenden Ampelkoalition in Berlin nicht hat. Ein Versuch, den Windkraftzubau zu beschleunigen, liegt auf prozessualer Ebene. Neue Windkraftfälle landen seit Ende 2020 ohne Umweg bei den Oberverwaltungsgerichten, die Verwaltungsgerichte sind als Vorinstanzen ausgeschlossen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalens hat reagiert und mehr Richterstellen finanziert, wodurch das OVG einen reinen Windkraft-Senat einrichten konnte, der neben den Mischsenaten 7 und 8 eingehende Klagen behandelt. Hessen ist diesem Beispiel gefolgt und hat zum 1. April 2023 am Verwaltungsgerichtshof einen neuen Senat mit drei zusätzlichen Richterstellen geschaffen, mit Schwerpunkt Windkraft.

Schließlich hat die Bundesregierung mit Paragraf 2 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) einen rechtlichen Beschleunigungshebel installiert. Wenn Schutzgüter gegeneinander abzuwägen sind, soll der Ausbau der Erneuerbaren in der Regel Vorrang haben, weil diese von „überragendem öffentlichem Interesse“ seien. Entfernt dieser Passus also Bremsklötze für die Windkraft? Die zunehmenden Klagen im Land sprechen dagegen. Franz-Josef Tigges hat eine Erklärung: „Ein neues Gesetz ist die eine Sache. Die andere ist, dass wir für mehr Rechtssicherheit von Windkraftvorhaben auch entsprechende Urteile benötigen.“

Was er meint: Paragraf 2 EEG muss in neuen Verfahren und der Rechtsprechung Anwendung finden, um damit Orientierung zu schaffen. Als das OVG Münster zum Beispiel wie 2023 Windkraft über Denkmalschutz stellte und eine optische Beeinträchtigung von Schloss Lembeck (Dorsten) verwarf, war Paragraf 2 ausschlaggebend − was anderen Gerichten als Leitplanke dient. Auch könnten weitere Schlossbeschützer von Klagen absehen, weil sie aussichtslos erscheinen. Allerdings zeigt die Praxis, dass erfolgte Richtersprüche die Gegner der Windkraft nicht unbedingt davon abhalten, den Ausnahmestatus des eigenen Falles zu betonen und auf Prozess und Urteil zu drängen.

Stromleitungen können „Korona“ bekommen

Und schließlich können gut gemeinte Gesetze auch so formuliert sein, dass sie mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Wie zuletzt an jenem Freitag am OVG Münster, als ein neuer Paragraf des Energiewirtschaftsgesetzes den 8. Senat beschäftigte. Stromleitungen können „Korona“ bekommen, war eine erste, die Laien überraschende Erkenntnis. Damit ist ein Brummton gemeint. Er entsteht an den Hochspannungskabeln, wenn Feuchtigkeit sich an ihnen absetzt und die Energie auf die Umgebungsluft einwirkt.

Das mögliche Brummen nahm ein Windkraftgegner aus dem westfälischen Ahlen als Argument, zwei geplante Turbinen zu verhindern. Deren Geräuschkulisse und das Korona-Brummen wären zusammen des Guten zu viel, meinte der Hausbesitzer. Weil das Gesetz hier Lücken lässt, musste der 8. Senat unter Vorsitz von Annette Kleinschnittger entscheiden, ob Leitungskorona selten im Sinne des Gesetzes vorkommt. Dann wäre nachts eine höhere Lärmbelastung von maximal 55 dB(A) zulässig, bei der die Windenergieanlagen nicht ins Gewicht fallen. Andernfalls hätten die Turbinen immer nachts bei Schnee und Regen stillzustehen. Das Gericht erkannte die Seltenheit von Korona an Stromtrassen an und gestattete damit den Weiterbau der Anlagen.

Im dritten Fall des Tages musste Annette Kleinschnittger gar nicht erst tätig werden. Eine Klägerpartei hatte ihren Widerstand gegen eine Anlage in Porta Westfalica aufgegeben. So weit nichts Ungewohntes an Gerichten, in Münster etwa erkennt das OVG einen „beachtlichen Trend“ zu Prozessen ohne Urteil. Etwa 80 Prozent der Fälle lassen sich zwischenzeitlich über Vergleiche oder Rücknahme von Klagen erledigen. Das ist durchaus im Sinne der Gerichte, an dem Januar-Freitag aber nur bedingt. Denn diesmal flatterte der Rückzieher knapp vor Verhandlungsbeginn per Mail herein, nach dem Geschmack vieler viel zu kurzfristig. Rechtsvertreter und Medien aus Ostwestfalen hatten sich längst zur Anfahrt auf die Autobahn begeben.

Untätig zu bleiben, kann bei Gerichten also Zeitgewinn bedeuten. Das gilt nicht für Genehmigungsbehörden. Siehe Mecklenburg-Vorpommern. Hier klagen Windkraftunternehmen über und gegen die Langsamkeit des Staatlichen Amts für Landwirtschaft und Umweltschutz Westmecklenburg (Stalu WM). Die Behörde benötigt im Schnitt 16 Monate, um vorliegende Anträge für Turbinen abzulehnen oder zu genehmigen. Erlaubt sind maximal sieben Monate. Entsprechend hatte das OVG Greifswald 2023 über rund 20 (!) Untätigkeitsklagen gegen das Stalu WM zu entscheiden. Ob die Anlagen im Falle der Genehmigung später noch einmal vor Gericht landen, weil jemand − siehe oben − etwas gegen sie einzuwenden hat, ist eine andere Geschichte deutscher Windkraftrechtsprechung.

 
Fast ein zweites Zuhause: Der Rechtsanwalt und Fachmann für Windenergierecht Franz-Josef Tigges ist Stammgast am Oberverwaltungsgericht Münster
Quelle: Volker Stephan

 

Mittwoch, 7.02.2024, 08:50 Uhr
Volker Stephan

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