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Energie & Management > E&M Vor 20 Jahren - Hennicke: Eine gute Basis für die Abkehr vom Populismus
Professor Peter Hennicke (hier ein Bild von 2008). Quelle: Wuppertal Institut
E&M Vor 20 Jahren

Hennicke: Eine gute Basis für die Abkehr vom Populismus

Im Herbst 2003 war der noch nicht national umgesetzte Emissionshandel eines der beherrschenden Themen. Gerade die Wissenschaft sparte nicht mit Kritik – an der Bundesregierung.
In der Diskussion um den Klimaschutz und den Strukturwandel in der Energiewirtschaft hatte sich die Bundesregierung vor 20 Jahren ebenso wenig souverän gezeigt wie in der Steuer- oder Rentenpolitik. „Fehlende strategische Orientierung“ attestierte damals Professor Peter Hennicke, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie den verantwortlichen Entscheidungsträgern. Aber auch die Rolle des eigenen Hauses sah der studierte Chemiker und Volkswirt im Gespräch mit E&M-Redakteur Fritz Wilhelm durchaus selbstkritisch. Hier das leicht gekürzte Interview vom Oktober 2003.

E&M: Herr Professor Hennicke, der Emissionshandel beherrscht derzeit die Klimaschutzdiskussion. Ist das die Eier legende Wollmilchsau?

Hennicke: Ganz sicher nicht. Nur cirka 46 Prozent der EU-weiten CO2-Emissionen entfallen auf den Sektor, der von der EU-Emissionshandelsrichtlinie erfasst ist. Den Rest müssen die Haushalte, der Gebäude-, der Kleinverbrauchs- und der Verkehrssektor einfahren. Ich sehe aber im Moment noch kein vernünftiges und ökonomisch begründetes Verfahren, wie man den jeweiligen Sektoren ihre Reduktionsverpflichtungen zuordnen könnte. Mit dem nationalen Allokationsplan für den Emissionshandelssektor müsste diese Zuordnung allerdings erfolgt sein.

E&M: In der öffentlichen Debatte bekommt man leicht den Eindruck, die Industrie müsse den Großteil der Reduktion tragen. Ist das nur strategisches Jammern?

Hennicke: Ich finde, der Begriff „Burden Sharing“ ist symptomatisch für die gesamte Diskussion. Hier wird suggeriert, jede Form von Klimaschutz koste nur beziehungsweise bringe keinen Nettonutzen. Die ganze Klimadiplomatie baut auf dieser Konnotation aus Last, Opfer und Kosten auf – ich nenne es einmal das Kyoto-Syndrom. Das stört mich sehr am Emissionshandel. Ich befürchte auch, dass die Assoziation der Reduktionsziele mit großen Opferleistungen, auch wenn sie tatsächlich nicht groß sind oder es sogar um ein Profit Sharing geht, die Wirksamkeit des Emissionshandels, auch projektbezogener Aktivitäten des Clean Development Mechanism oder Joint Implementation, stark begrenzen kann.

E&M: Wie könnte man den Unternehmen den Nettonutzen vermitteln?

Hennicke: Der Wirtschaft Klimaschutzmaßnahmen zu oktroyieren und ihr nur wenig Zeit zu lassen, sich anzupassen, ist immer problematisch. Man muss mit einer energiepolitischen Feinsteuerung, wie zum Beispiel in Dänemark, versuchen, in den Investitionszyklus der Unternehmen einzuschwingen. Wenn die Emissionsreduktion durch eine neue oder modernisierte Anlage erfolgt, kann die damit verbundene Energiekosteneinsparung die Investitionen refinanzieren. Dazu können auch Contracting-Aktivitäten beitragen.
 
„Kein unverbindliches Gerede, sondern computergestützte Szenarioanalysen“
 
E&M: Hätte man noch etwas mit dem Emissionshandel warten müssen?

Hennicke: Abwarten beim Klimaschutz und bei der Umstrukturierung des Kraftwerksparks können wir uns nicht leisten. Das Problem ist, dass der Emissionshandel für den Kernenergieausstieg kontraproduktive und für die notwendige beschleunigte Markteinführung der Erneuerbaren, der Kraft-Wärme/Kälte-Koppelung und vor allem für das Stromsparen völlig unzureichende Anreize setzt. Der historisch gewachsene Großkraftwerkspark auf Basis von Kernenergie und Kohle kann ja aus Gründen des Klimaschutzes und des Kernenergieausstiegs nicht mehr eins zu eins ersetzt werden. Es muss daher zu einem Umbau kommen, der mit einer großen Effizienzsteigerung einhergeht. Dieser zukunftsfähige Strukturwandel des Kraftwerksparks kann nur durch ein den Emissionshandel flankierendes neues energiepolitisches Instrumentarium, beispielsweise durch einen Energieeffizienzfonds, erreicht werden.

E&M: Mit Strukturwandeln haben sich Gesellschaften aber noch nie leicht getan...

Hennicke: Das stimmt. Aber wenn die Politik endlich erkennen würde, dass wir ein stringentes Strategiekonzept für die Energiepolitik weit über die Legislaturperiode hinaus brauchen – ein an quantifizierten Leitzielen orientiertes Bundesenergieprogramm – wäre ich optimistisch, dass wir den Strukturwandel auch hinbekommen. Angesichts der Klimasituation haben wir eigentlich gar keine andere Wahl.

E&M: Dann stehen uns noch viele nationale Energiegipfel bevor?

Hennicke: Wir machen seit langem den Vorschlag − und ich halte an ihm fest, auch wenn nicht immer gute Erfahrungen mit Energie-Enquetekommissionen gemacht wurden −, die mittel- und langfristigen Zukunftsvorstellungen verschiedener Interessengruppen systematisch mit Hilfe von Szenariotechniken übereinanderzulegen. Dann erhält man Schnittmengen konsensualer Meinungen und kann aber auch Zielkonflikte besser identifizieren. Ein solcher Diskurs könnte zum Beispiel vom Nachhaltigkeitsrat veranstaltet werden – kein unverbindliches Gerede, sondern computergestützte Szenarioanalysen, um quantifizierte Leitziele und strategische Umsetzungsinitiativen zu identifizieren.

E&M: Was trauen Sie der Bundesregierung überhaupt noch zu?

Hennicke: Wenn man versucht, sehr viele Baustellen auf einmal zu eröffnen und das dann auch teilweise handwerklich nicht gewissenhaft macht, kann nicht alles glattgehen. Von Umweltminister Trittin kommen aber sehr vernünftige Vorschläge, beispielsweise, wie man die Energieeffizienz und die Erneuerbaren zusammenbringen kann.
 
„Die Kernenergie könnte sich als vermeintlicher Nothelfer anbieten“
 
E&M: Aber wenn man die Politik der Öffentlichkeit und den Lobbyisten nicht richtig vermittelt?

Hennicke: Ich glaube, die Politik unterschätzt ihre Wähler und die Bürger. Ich sehe eine deutliche Mehrheit von Bürgern, die erkannt hat, dass etwas passieren muss, und auch akzeptiert hat, dass der Strukturwandel für den einen oder anderen schmerzlich sein kann. Er muss aber insgesamt gerechter zugehen als bisher. Das ist doch eine gute Basis für die Abkehr vom Populismus und für die Rückkehr zu programmatischer Politik. Sollte dies allerdings nicht gelingen, sehe ich in der Tat schwarz.

E&M: Bei einem Regierungswechsel könnte es sogar zu einer Renaissance der Kernenergie kommen.

Hennicke: Zu glauben, man könne einfach das Rad zurückdrehen, halte ich für ausgesprochen realitätsfern. Das wäre energiewirtschaftlich unvernünftig – zu teuer und im liberalisierten Energiemarkt für die Unternehmen viel zu riskant. Die Kernenergie ist auch im weltweiten Maßstab kein Instrument des Klimaschutzes und es gibt nachweislich billigere und weit weniger riskante Alternativen. Wenn in Deutschland allerdings die klimaverträglichen Alternativen zum Kernenergiestrom nicht schneller und entschlossener in den Markt eingeführt werden, kann ich mir eine Situation vorstellen, in der die energiewirtschaftlichen oder Umweltprobleme ein solches Ausmaß annehmen, dass sie gesellschaftspolitisch relevant werden. Dann könnte sich die Kernenergie erneut als vermeintlicher Nothelfer anbieten und tatsächlich auch gesellschaftliche Akzeptanz finden, wenn wir bis dahin nicht die Machbarkeit der Alternativen demonstriert haben.

E&M: Können Sie nicht auch auf die Politik gestaltend Einfluss nehmen? Schließlich ist Politikberatung Ihr Geschäft.

Hennicke: Es ist nicht unsere Aufgabe, Politik zu gestalten, sondern Politikern und Managern wissenschaftliche Konzepte für eine vorsorgende Politik und für gute Entscheidungen zu liefern. Es gibt immer noch Politiker, die ohne Konzept ameisenhaft durch die Landschaft laufen und glauben, dabei auf Arbeitsplätze, Emissionsvermeidungstechnologie oder Ähnliches zu stoßen. Manche machen sich zu Spartenlobbyisten. Vor allem Regierungspolitiker dürfen das meiner Meinung nach nicht. Einen „Autokanzler“ darf es ebenso wenig geben wie eine „Atomkanzlerin“. Die Fähigkeit, im Interesse des Gemeinwohls Kompromisse zu formulieren oder gesamtgesellschaftliche Ziele auszutarieren, ist der Politik derzeit abhandengekommen. Das hängt mit einem grundsätzlichen Mangel an strategischer Orientierung zusammen. Wir machen allerdings die Erfahrung, dass die Nachfrage nach strategischer Orientierung dann zunimmt, wenn diese praxisnah und lösungsorientiert ist.
 
„Einen ‚Autokanzler‘ darf es ebenso wenig geben wie eine ‚Atomkanzlerin‘“
 
E&M: Haben Sie das Gefühl, bei Ihrer Politikberatung in direkter Konkurrenz zur Lobbyarbeit der Wirtschaftsverbände zu stehen – Sie am linken Ohr, die Verbände am rechten Ohr der Regierung?

Hennicke: Ich sehe uns als Kompass in einer stürmischen See, in der auch häufig genug die Verbände nicht mehr die richtige Richtung kennen. Wir arbeiten zum Teil mit der Wirtschaft besser als mit der Politik zusammen, zum Beispiel mit Ruhrgas, mit der kommunalen Energiewirtschaft und mit vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Das gilt aber auch für Gewerkschaften und Umweltverbände. Grundlage dieser Zusammenarbeit ist unsere absolute Unabhängigkeit. Auch die Wirtschaft hat ein natürliches Interesse daran, dass wir völlig ergebnisoffen untersuchen. Bei Gefälligkeitsgutachten wäre ja das Geld des Auftraggebers wegen mangelnder Glaubwürdigkeit für die Katz’. Es gibt immer wieder Situationen, in denen wir jemandem kräftig auf die Füße treten müssen, wir haben aber aus der Vergangenheit gelernt, dass man das nicht mit lautem Getöse, sondern mit guten wissenschaftlichen Argumenten und dezent und diplomatisch machen sollte. Man darf uns auch nicht mehr vorwerfen können, wir würden zu einseitig für die Ökologie Partei ergreifen. Die Ökologie hat nur eine Chance, wenn sie tatsächlich als Langfristökonomie verstanden wird und sozial- und wirtschaftlich verträglich eingebunden wird.
 

Montag, 23.10.2023, 17:08 Uhr
Fritz Wilhelm
Energie & Management > E&M Vor 20 Jahren - Hennicke: Eine gute Basis für die Abkehr vom Populismus
Professor Peter Hennicke (hier ein Bild von 2008). Quelle: Wuppertal Institut
E&M Vor 20 Jahren
Hennicke: Eine gute Basis für die Abkehr vom Populismus
Im Herbst 2003 war der noch nicht national umgesetzte Emissionshandel eines der beherrschenden Themen. Gerade die Wissenschaft sparte nicht mit Kritik – an der Bundesregierung.
In der Diskussion um den Klimaschutz und den Strukturwandel in der Energiewirtschaft hatte sich die Bundesregierung vor 20 Jahren ebenso wenig souverän gezeigt wie in der Steuer- oder Rentenpolitik. „Fehlende strategische Orientierung“ attestierte damals Professor Peter Hennicke, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie den verantwortlichen Entscheidungsträgern. Aber auch die Rolle des eigenen Hauses sah der studierte Chemiker und Volkswirt im Gespräch mit E&M-Redakteur Fritz Wilhelm durchaus selbstkritisch. Hier das leicht gekürzte Interview vom Oktober 2003.

E&M: Herr Professor Hennicke, der Emissionshandel beherrscht derzeit die Klimaschutzdiskussion. Ist das die Eier legende Wollmilchsau?

Hennicke: Ganz sicher nicht. Nur cirka 46 Prozent der EU-weiten CO2-Emissionen entfallen auf den Sektor, der von der EU-Emissionshandelsrichtlinie erfasst ist. Den Rest müssen die Haushalte, der Gebäude-, der Kleinverbrauchs- und der Verkehrssektor einfahren. Ich sehe aber im Moment noch kein vernünftiges und ökonomisch begründetes Verfahren, wie man den jeweiligen Sektoren ihre Reduktionsverpflichtungen zuordnen könnte. Mit dem nationalen Allokationsplan für den Emissionshandelssektor müsste diese Zuordnung allerdings erfolgt sein.

E&M: In der öffentlichen Debatte bekommt man leicht den Eindruck, die Industrie müsse den Großteil der Reduktion tragen. Ist das nur strategisches Jammern?

Hennicke: Ich finde, der Begriff „Burden Sharing“ ist symptomatisch für die gesamte Diskussion. Hier wird suggeriert, jede Form von Klimaschutz koste nur beziehungsweise bringe keinen Nettonutzen. Die ganze Klimadiplomatie baut auf dieser Konnotation aus Last, Opfer und Kosten auf – ich nenne es einmal das Kyoto-Syndrom. Das stört mich sehr am Emissionshandel. Ich befürchte auch, dass die Assoziation der Reduktionsziele mit großen Opferleistungen, auch wenn sie tatsächlich nicht groß sind oder es sogar um ein Profit Sharing geht, die Wirksamkeit des Emissionshandels, auch projektbezogener Aktivitäten des Clean Development Mechanism oder Joint Implementation, stark begrenzen kann.

E&M: Wie könnte man den Unternehmen den Nettonutzen vermitteln?

Hennicke: Der Wirtschaft Klimaschutzmaßnahmen zu oktroyieren und ihr nur wenig Zeit zu lassen, sich anzupassen, ist immer problematisch. Man muss mit einer energiepolitischen Feinsteuerung, wie zum Beispiel in Dänemark, versuchen, in den Investitionszyklus der Unternehmen einzuschwingen. Wenn die Emissionsreduktion durch eine neue oder modernisierte Anlage erfolgt, kann die damit verbundene Energiekosteneinsparung die Investitionen refinanzieren. Dazu können auch Contracting-Aktivitäten beitragen.
 
„Kein unverbindliches Gerede, sondern computergestützte Szenarioanalysen“
 
E&M: Hätte man noch etwas mit dem Emissionshandel warten müssen?

Hennicke: Abwarten beim Klimaschutz und bei der Umstrukturierung des Kraftwerksparks können wir uns nicht leisten. Das Problem ist, dass der Emissionshandel für den Kernenergieausstieg kontraproduktive und für die notwendige beschleunigte Markteinführung der Erneuerbaren, der Kraft-Wärme/Kälte-Koppelung und vor allem für das Stromsparen völlig unzureichende Anreize setzt. Der historisch gewachsene Großkraftwerkspark auf Basis von Kernenergie und Kohle kann ja aus Gründen des Klimaschutzes und des Kernenergieausstiegs nicht mehr eins zu eins ersetzt werden. Es muss daher zu einem Umbau kommen, der mit einer großen Effizienzsteigerung einhergeht. Dieser zukunftsfähige Strukturwandel des Kraftwerksparks kann nur durch ein den Emissionshandel flankierendes neues energiepolitisches Instrumentarium, beispielsweise durch einen Energieeffizienzfonds, erreicht werden.

E&M: Mit Strukturwandeln haben sich Gesellschaften aber noch nie leicht getan...

Hennicke: Das stimmt. Aber wenn die Politik endlich erkennen würde, dass wir ein stringentes Strategiekonzept für die Energiepolitik weit über die Legislaturperiode hinaus brauchen – ein an quantifizierten Leitzielen orientiertes Bundesenergieprogramm – wäre ich optimistisch, dass wir den Strukturwandel auch hinbekommen. Angesichts der Klimasituation haben wir eigentlich gar keine andere Wahl.

E&M: Dann stehen uns noch viele nationale Energiegipfel bevor?

Hennicke: Wir machen seit langem den Vorschlag − und ich halte an ihm fest, auch wenn nicht immer gute Erfahrungen mit Energie-Enquetekommissionen gemacht wurden −, die mittel- und langfristigen Zukunftsvorstellungen verschiedener Interessengruppen systematisch mit Hilfe von Szenariotechniken übereinanderzulegen. Dann erhält man Schnittmengen konsensualer Meinungen und kann aber auch Zielkonflikte besser identifizieren. Ein solcher Diskurs könnte zum Beispiel vom Nachhaltigkeitsrat veranstaltet werden – kein unverbindliches Gerede, sondern computergestützte Szenarioanalysen, um quantifizierte Leitziele und strategische Umsetzungsinitiativen zu identifizieren.

E&M: Was trauen Sie der Bundesregierung überhaupt noch zu?

Hennicke: Wenn man versucht, sehr viele Baustellen auf einmal zu eröffnen und das dann auch teilweise handwerklich nicht gewissenhaft macht, kann nicht alles glattgehen. Von Umweltminister Trittin kommen aber sehr vernünftige Vorschläge, beispielsweise, wie man die Energieeffizienz und die Erneuerbaren zusammenbringen kann.
 
„Die Kernenergie könnte sich als vermeintlicher Nothelfer anbieten“
 
E&M: Aber wenn man die Politik der Öffentlichkeit und den Lobbyisten nicht richtig vermittelt?

Hennicke: Ich glaube, die Politik unterschätzt ihre Wähler und die Bürger. Ich sehe eine deutliche Mehrheit von Bürgern, die erkannt hat, dass etwas passieren muss, und auch akzeptiert hat, dass der Strukturwandel für den einen oder anderen schmerzlich sein kann. Er muss aber insgesamt gerechter zugehen als bisher. Das ist doch eine gute Basis für die Abkehr vom Populismus und für die Rückkehr zu programmatischer Politik. Sollte dies allerdings nicht gelingen, sehe ich in der Tat schwarz.

E&M: Bei einem Regierungswechsel könnte es sogar zu einer Renaissance der Kernenergie kommen.

Hennicke: Zu glauben, man könne einfach das Rad zurückdrehen, halte ich für ausgesprochen realitätsfern. Das wäre energiewirtschaftlich unvernünftig – zu teuer und im liberalisierten Energiemarkt für die Unternehmen viel zu riskant. Die Kernenergie ist auch im weltweiten Maßstab kein Instrument des Klimaschutzes und es gibt nachweislich billigere und weit weniger riskante Alternativen. Wenn in Deutschland allerdings die klimaverträglichen Alternativen zum Kernenergiestrom nicht schneller und entschlossener in den Markt eingeführt werden, kann ich mir eine Situation vorstellen, in der die energiewirtschaftlichen oder Umweltprobleme ein solches Ausmaß annehmen, dass sie gesellschaftspolitisch relevant werden. Dann könnte sich die Kernenergie erneut als vermeintlicher Nothelfer anbieten und tatsächlich auch gesellschaftliche Akzeptanz finden, wenn wir bis dahin nicht die Machbarkeit der Alternativen demonstriert haben.

E&M: Können Sie nicht auch auf die Politik gestaltend Einfluss nehmen? Schließlich ist Politikberatung Ihr Geschäft.

Hennicke: Es ist nicht unsere Aufgabe, Politik zu gestalten, sondern Politikern und Managern wissenschaftliche Konzepte für eine vorsorgende Politik und für gute Entscheidungen zu liefern. Es gibt immer noch Politiker, die ohne Konzept ameisenhaft durch die Landschaft laufen und glauben, dabei auf Arbeitsplätze, Emissionsvermeidungstechnologie oder Ähnliches zu stoßen. Manche machen sich zu Spartenlobbyisten. Vor allem Regierungspolitiker dürfen das meiner Meinung nach nicht. Einen „Autokanzler“ darf es ebenso wenig geben wie eine „Atomkanzlerin“. Die Fähigkeit, im Interesse des Gemeinwohls Kompromisse zu formulieren oder gesamtgesellschaftliche Ziele auszutarieren, ist der Politik derzeit abhandengekommen. Das hängt mit einem grundsätzlichen Mangel an strategischer Orientierung zusammen. Wir machen allerdings die Erfahrung, dass die Nachfrage nach strategischer Orientierung dann zunimmt, wenn diese praxisnah und lösungsorientiert ist.
 
„Einen ‚Autokanzler‘ darf es ebenso wenig geben wie eine ‚Atomkanzlerin‘“
 
E&M: Haben Sie das Gefühl, bei Ihrer Politikberatung in direkter Konkurrenz zur Lobbyarbeit der Wirtschaftsverbände zu stehen – Sie am linken Ohr, die Verbände am rechten Ohr der Regierung?

Hennicke: Ich sehe uns als Kompass in einer stürmischen See, in der auch häufig genug die Verbände nicht mehr die richtige Richtung kennen. Wir arbeiten zum Teil mit der Wirtschaft besser als mit der Politik zusammen, zum Beispiel mit Ruhrgas, mit der kommunalen Energiewirtschaft und mit vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Das gilt aber auch für Gewerkschaften und Umweltverbände. Grundlage dieser Zusammenarbeit ist unsere absolute Unabhängigkeit. Auch die Wirtschaft hat ein natürliches Interesse daran, dass wir völlig ergebnisoffen untersuchen. Bei Gefälligkeitsgutachten wäre ja das Geld des Auftraggebers wegen mangelnder Glaubwürdigkeit für die Katz’. Es gibt immer wieder Situationen, in denen wir jemandem kräftig auf die Füße treten müssen, wir haben aber aus der Vergangenheit gelernt, dass man das nicht mit lautem Getöse, sondern mit guten wissenschaftlichen Argumenten und dezent und diplomatisch machen sollte. Man darf uns auch nicht mehr vorwerfen können, wir würden zu einseitig für die Ökologie Partei ergreifen. Die Ökologie hat nur eine Chance, wenn sie tatsächlich als Langfristökonomie verstanden wird und sozial- und wirtschaftlich verträglich eingebunden wird.
 

Montag, 23.10.2023, 17:08 Uhr
Fritz Wilhelm

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