Simon Müller (Agora Energiewende) bei der BWO-Veranstaltung. Quelle: E&M / Georg Eble
Die Denkfabrik Agora Energiewende rechnet mit großen klima- und energiepolitischen Veränderungen nach den Wahlen 2025. Bis dahin wird es in dem Ressort kein größeres Projekt mehr geben.
Simon Müller, Direktor der Denkfabrik Agora Energiewende, geht offenbar nur noch von kleineren energie- und klimapolitischen Anpassungen bis zu den Bundestagswahlen 2025 aus. Bei einer englischsprachigen Veranstaltung des Bundesverbandes Windenergie Offshore (BWO) gab Müller am 3. September die persönliche Einschätzung, dass die bestehende Ampelkoalition angesichts des derzeitigen Haushaltsstreits „kein größeres gesetzgeberisches Projekt mehr“ umsetzen werde.
Im März 2025 werde der Sachverständigenrat für Klimafragen erneut einen Bericht zur Umsetzung der nationalen Klimaziele veröffentlichen, der nach Müllers Vermutung denselben Befund haben wird wie jener vom Juni 2024 (wir berichteten): Deutschland verfehlt sein 2030-Ziel, weil die Übererfüllung der CO2-Minderungen im Energiesektor die negative Entwicklung im Gebäude- und Verkehrssektor nicht ausgleichen kann. Dann sei es aber, deutete Müller an, ein halbes Jahr bis zur Bundestagswahl zu spät für einen großen Wurf.
Nach den Wahlen dagegen werde es eine „Generalüberholung (overhaul) der Klima- und Energiepolitik“ geben, prognostizierte der Agora-Direktor.
Kooperation bei Offshore-Flächen „unerlässlich“, aber unwahrscheinlich
Mit Stillstand rechnet Müller auch in der Zusammenarbeit mit den Nordsee-Nachbarstaaten, was die Windkraft auf See angeht. Er forderte neue zwischenstaatliche „Kooperationsmechanismen, um (auch) anderswo zu bauen als in unserer eigenen Ausschließlichen Wirtschaftszone“. Deren Nordsee-Grenze in der Form eines Entenschnabels sei „willkürlich“.
Trotz immer küstenfernerer Offshore-Ausschreibungsflächen sei das nationale Ausbauziel von 70.000 MW im Klimaneutralitätsjahr 2045 zwar zu schaffen, aber wegen „signifikanter“ Verschattungseffekte (wake effects), bei denen bestehende Windparks in der Nachbarschaft künftigen Windparks gleichsam den Wind wegnehmen, werde die Stromausbeute bei einem weiter rein nationalen Ausschreibungsregime unter ein Niveau sinken, das die Industrie zur Dekarbonisierung braucht.
Das Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme (IWES) hatte den Output für 2045 auf 250 Milliarden kWh geschätzt, ein Übertragungsnetzbetreiber hatte aber jüngst in der Presse nur von 200 Milliarden kWh gesprochen. Auch deswegen sollten laut Müller künftig Strommengen ausgeschrieben werden statt installierter Leistungen.
Kooperationsmechanismen mit den maritimen Nachbarstaaten sollten priorisiert werden, so der Direktor weiter. Dann ließen sich unter anderem die Verschattungseffekte grenzüberschreitend regeln und die Ausschreibungen kostensenkend harmonisieren. Staatsverträge müssten in diesem Sinne auch grenzüberschreitende Netzanbindungen auf See regeln. Müller mit Bezug auf eine Studie der europäischen Übertragungsnetzbetreiber: „Es ist klar, dass wir 2050 mehr als die 14 Prozent grenzüberschreitende Anschlusskapazität brauchen, die Entsoe prognostiziert hat.“
Das alles sei besser, als die nationalen Ziele zu kappen. Die politische Durchsetzbarkeit seines Vorschlags versah Müller allerdings mit Fragezeichen: „Ich bin nicht naiv angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in den Niederlanden oder in Thüringen“, sagte er sinngemäß mit Bezug auf die Mitte-Rechts-Koalition in Holland und den taufrischen Wahlerfolg der AfD in Thüringen und Sachsen.
Plädoyer für qualitative Kriterien
Die in der jüngsten Ausschreibung diesen August drastisch gesunkene Zahlungsbereitschaft um deutsche Offshore-Flächen (wir berichteten mehrfach) kann Simon Müller zufolge mehrere Gründe haben: etwa eine geringere Attraktivität der konkreten Flächen und die sinkenden Strom-Großhandelspreise und damit Erlöserwartungen − bei steigenden Kosten.
Müller plädierte dafür, die Zuschlagskriterien von der Zahlungsbereitschaft auf Beiträge zu Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung der Wirtschaft umzustellen. Dies hätte für ihn den Charme, dass um Ideen statt um Geld gerungen werde. Ein qualitativer Wettbewerb stärke auch unweigerlich die heimische Wertschöpfungskette.
Die Probleme in der Wertschöpfungskette, inklusive verzögerte Netzanbindungen, seien die größte Ursache für die Verzögerungen um bis zu 6.000 MW im Jahr 2029 um bis zu zwei Jahre. Weitere Maßnahmen, die Müller vorschlug, wäre die Umstellung auf zweiseitige Differenzverträge (CfD), die im Übrigen keine Subvention seien, sowie Bürgschaften und Kredite der KfW an kleine und mittlere Unternehmen (KMU).
Ende der Zone DE-LU
Bei allem energiepolitischen Stillstand glaubt Simon Müller an ein Ende der Strompreiszone Deutschland(-Luxemburg): „Die einheitliche Strompreiszone Deutschland wird nicht mehr funktionieren“, sagte der Agora-Direktor. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte sich erst jüngst erneut gegen eine Teilung gestellt (wir berichteten).
Dienstag, 3.09.2024, 15:50 Uhr
Georg Eble
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