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Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitungsausgabe - Vorzeitig alle high
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitungsausgabe

Vorzeitig alle high

Die Umstellung von L- auf H-Gas ist das größte Projekt der deutschen Gasbranche seit dem Ende des Stadtgases in Ostdeutschland. Es drohte zum Fiasko zu werden, jetzt läuft es exzellent.
In Deutschland wird ein Großprojekt überhaupt fertig und dann auch noch vorzeitig. Was wie ein politischer Witz anmutet, könnte 2029 Wirklichkeit werden: Bis dahin sollen nach 14 Jahren 5,292 Mio. Verbrauchsgeräte, vor allem Heizungen, im Norden und Westen von L- auf H-Gas umgestellt sein, von Low Calorific Gas mit weniger Methan und geringeren Brennwerten auf High Calorific Gas. Ganz Deutschland wird high. Der Grund: Bis 2029 wird Holland, das für 60 % der deutschen L-Gas-Einspeisung steht, nichts mehr exportieren. Im erdbebengeplagten L-Gas-Großfeld bei Groningen ist schon diesen Oktober Schluss. L-Gas geht auch in Niedersachsen zur Neige, woanders gibt es keines.

Edit: Nach Redaktionsschluss der E&M-Druckausgabe 1/2021 berichtete der Spiegel am 10. Januar 2022, dass aufgrund einer hohen Bedarfsanmeldung aus Deutschland aus dem Feld Groningen im laufenden Gaswirtschaftsjahr doch noch 7,8 Mrd. Kubik L-Gas (statt 3,9 Mrd.) gefördert werden sollen. Der scheidende holländische Wirtschaftsminister Stef Blok habe sich darüber bei seinem deutschen Kollegen Robert Habeck (Grüne) beschwert und Deutschland zu Energieeinsparungen aufgefordert.

Bevor H-Gas aus Russland und Norwegen übernimmt, müssen jedes Verbrauchsgerät und so manche Verdichter- oder Übergabestation anders eingestellt sein. Heizungen bekommen H-Gas-Düsen, sonst streiken sie mit Alarmton. Bei Industriebetrieben mit flammpunktsensiblen Prozessen verhindert diese Marktraumumstellung gar Millionenschäden.

„Die Ferngasnetzbetreiber haben im letzten Netzentwicklungsplan die letzten Schaltungen auf 2027 bis 2029 vorgezogen“, berichtete Michael Rabenau auf E&M-Anfrage. Mit „Schaltungen“ meint der Seniorberater in der Marktraumumstellung im Auftrag von BBH Consulting den Tag, an dem erstmals H-Gas über die Übergabestation ins Verteilnetz strömt und das letzte L-Gas rausdrückt. Der Maschinenbau- und Wirtschaftsingenieur hat einen der besten Überblicke über das Thema. Seit 35 Jahren in der Gasbranche, gehört er einschlägigen Gremien der Normierer DVGW und DIN an, referiert bei der Verteilnetzbetreiber-Arbeitsgemeinschaft Erdgasumstellung (Arge Egu), berät betroffene VNB. Er sagt, nach 2030 blieben nur 10.000 L-Gas-Geräte übrig statt wie ursprünglich geplant 400.000.

Den Anlass sieht Rabenau darin, dass die spezialisierten Umstellungsunternehmen sonst ihre Kapazitäten heruntergefahren hätten und dann die Marktraumumstellung „auf der letzten Meile teuer geworden wäre“. Ganz im ursprünglichen Budget von 1,68 Mrd. Euro bleibt das Großprojekt ohnehin nicht. Rabenau rechnet mit gut 2 Mrd. Euro. Sie werden auf die Ferngasausspeiseentgelte umgelegt. Dieses Jahr beläuft sich der Wälzbetrag auf 73,35 Ct/kWh/h, etwas mehr als 2021. Am Ende zahlen das alle deutschen Gaskunden, auch jene, die schon immer H-Gas hatten, so ist es im Energiewirtschaftsgesetz politisch gewollt.

Es wird 2029 freilich keine Jubelfeier geben. Erstens läuft die Marktraumumstellung als langweiliges Gastechnikthema unter dem bundespolitischen Radar. Zweitens gibt es keinen zentralen Bau, bei dem ein Kanzler oder eine Kanzlerin auf einen Buzzer drücken könnte, wenn sich er oder sie überhaupt noch vor dem fossilen Energieträger sehen lassen will, sondern nur einige neue abgelegene Verdichterstationen und längst wieder zugebuddelte neue Leitungsabschnitte. Und die Haushalte werden von ihrer Umstellung in 97 % der Fälle nicht viel mehr mitbekommen haben als einen Monteur oder eine Monteurin, die ihre Geräte zwei Jahre vorher erfasste, und einen anderen, der sie kurz vor oder beim „Schalttermin“ anpasste.

Drittens: Zwar ist die Marktraumumstellung zentral geplant, nämlich
  • von der Bundesnetzagentur (BNetzA) überwacht,
  • von der Vereinigung der Ferngasnetzbetreiber (FNB) alle zwei Jahre in den Netzentwicklungsplänen (NEP) Gas orchestriert,
  • von der gesamten Gaswirtschaft in den jährlichen Kooperationsvereinbarungen feingetunt, deren zwölfte (KoV XII) seit Oktober 2021 gilt,
  • und vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches flankiert, etwa mit Montierendenschulungen gemäß seinem Datenblatt G 695 und mit einer Datenbank, die alle jemals erfassten Geräte umfasst,
doch die operative Detailarbeit am Großprojekt läuft dezentral bei 125 betroffenen VNB. Sie müssen, egal ob kommunal oder privat, alle Umstellungsdienstleistungen ausschreiben, und zwar in drei verschiedenen Rollen − andernfalls bleiben sie auf den Kosten sitzen. Bewerber sind darauf spezialisierte Dienstleister sowie einige wenige große VNB, die Fachpersonal von der DVGW Cert extra dafür zertifizieren ließen. „Ein Umstellungsmonteur muss theoretisch über 23.000 verschiedene Geräte aus der DVGW-Datenbank anpassen können“, sagt Michael Rabenau.

Insgesamt 850 Montierende sind mittlerweile für die Umstellung qualifiziert. Das ist ein bisschen höher als die Zahl, die Arge Egu für den Peak des Großprojekts − der war 2021 − gefordert hatte, damit es keine Verzögerungen gibt. Verzögerungen können das Projekt als Ganzes gefährden, denn die Reihenfolge der Umstellungen ist von den FNB auch nach technischen Zwängen wie ein Dominospiel festgelegt: Man muss ganz hinten hinter den Wurmfortsätzen von L-Gas-Fernleitungen beginnen − das war 2015 in Schneverdingen in der Heide − und dann mit dem zweithintersten Verteilnetz oder Industriebetrieb weitermachen und so fort, bis zu den letzten einheimischen Produktionsstätten und den Importpunkten aus Holland.

Scheitert der Schalttermin im hintersten Netz, muss es immer noch L-Gas bekommen, damit weiter geheizt werden kann. Dann muss aber das zweithinterste an derselben Fernleitung mit seinem H-Gas-Schalttermin warten, weil diese nur entweder die eine oder die andere Gasqualität führen darf.

Der zweite Sachzwang ist das Umstellungspersonal: Es schwillt nach dem Schalttermin in einem Verteilnetz oder in einem Schaltbezirk eines größeren Verteilnetzes auf das Sechsfache des normalen Netzbetriebs an. Noch am Schalttag müssen die Montierenden zu den Haushalten. Das schafft kein VNB allein mit seinen Leuten. Sie brauchen die Dienstleister, die sich als fahrende Techniker quer durch den Nordwesten arbeiten. Bleiben sie in einem Netz länger als geplant, ziehen sie zu spät zum nächsten zugeschlagenen Netz um.

Am Anfang, 2015, drohte genau das, hatte die Arge Egu gewarnt, weil es zu wenig Personal gab. Die letzte flächendeckende Umstellung − jene des gesamten Ostens von Stadt- auf Erdgas − war längst vergessen, das letzte Unternehmen, die Begatec, hatte seinen Marktraumumstellungsbereich aufgelöst, entließ viele Fachkräfte. Für die 2020er-Jahre, so die Arge Egu damals, fehlten allein 310 Montierende.

Goldgräberstimmung kam auf

Es kam anders. „Es herrschte Goldgräberstimmung“, erinnert sich Rabenau. „Alle (entlassenen; d. Red.) Monteure hatten nahezu umgehend wieder Arbeit in den sich neu gründenden Firmen der Marktraumumstellung.“ 2008, vor der großen Welle, erlöste die Umstellung pro Gerät in Nordhorn (Niedersachsen) ihm zufolge noch 114 Euro. „Heute ist − bei wesentlich erweiterten Anforderungen − mit 280 bis 350 Euro pro Gerät zu rechnen. Ein Umstellungsmonteur macht im Mittel ungefähr 700 Euro Umsatz pro Tag.“ Laut Marktgerüchten beschäftigen die größten Dienstleister − Gatter3, Eltel vormals U-Serv, Enermess und LPR Energy − jeweils zwischen 65 und 90 Montierende.

Die zweite Gefahr für das Großprojekt war Covid. Im ersten Lockdown ging im März 2020 nichts mehr, Monteure und Monteurinnen durften erst mal nicht in die Gebäude, Dienstleister waren am Rande der Pleite. Die Arbeit wurde aber nach einer Neubewertung der Risiken und unter Corona-Schutz „rasch“ nachgeholt, so die BNetzA zu E&M. Ende 2020 waren ihr zufolge „über 99 Prozent der Geräte wie geplant angepasst“. Da half auch die Kehrseite von Covid: Die Verbrauchenden waren häufiger auf Anhieb daheim anzutreffen.

Und jetzt? Zwar steht die größte Großstadt, Köln, noch bevor, ebenso Düsseldorf, Münster, Wuppertal. Doch 2021 war der Peak der Umstellung mit 571.000 Geräten. Die Großräume Bremen und Hannover wurden komplett high. „Wir haben 1,5 Millionen Anpassungen hinter uns, das sind 28 Prozent. Und es ist bislang nichts passiert“, äußert sich Michael Rabenau erleichtert. „Es gab im erwartbaren Rahmen gelegentlich Störungen an Verbrauchsgeräten.“ Erhoben seien knapp 2 Mio. oder 37 % der Geräte.

Das Großprojekt sei quantitativ „fast geschafft“, referierte Rabenau im November 2021 laut Folie bei der Arge Egu. 90 % der Aufträge und alle Großstädte außer Münster (2029) seien vergeben, entweder offiziell oder „indikativ“; damit meint er, dass einige Zuschläge an bestimmte Dienstleister wahrscheinlich sind. Nur 35 Netzbetreiber müssen noch ausschreiben.

Und schon die nächste Umstellung

Aber auch H-Gas stößt bei der Verbrennung CO2 aus. Die Dekarbonisierungsfrage bleibt und damit auch die Frage nach der nächsten Umstellung: der auf Wasserstoff. Die FNB hatten im NEP im Januar 2021 ein 1.200 Kilometer langes „Startnetz“ mit 100 % Wasserstoff zur Konsultation gestellt, das zu 90 % durch bisherige Erdgasleitungen führen soll. 2025 sollte es in der „Grüngasvariante“ schon 471 Kilometer umfassen, mit Schwerpunkten in eben demselben Nordwestdeutschland. Die BNetzA hat den FNB dieses separate 100-%-Wasserstoffnetz gestrichen, dafür sei ein NEP Gas nicht der richtige Ort.

Die offene Zukunft des Netzes beschäftigte im vergangenen November laut Mitteilung auch die Arge Egu: „Bei Schaltterminen ab 2025 ergeben sich Zielkonflikte zwischen Erdgasumstellung und Klimaneutralität“, sagte Peter Bergmann, Vorstand von BBH Consulting. Der Gasabsatz gehe zurück, eine Stilllegung von Teilnetzen sei denkbar. Und die Ampel will laut Koalitionsvertrag bis 2030 die Hälfte der Wärme klimaneutral erzeugt sehen.

2026 berät Michael Rabenau seine letzte Marktraumumstellung. Danach will er mit 70 in Pension gehen, kurz vor dem glorreichen Ende des Großprojekts.
 
Eine solche Düse muss bei jedem Heizungsbrenner ausgetauscht werden, der bislang L-Gas verfeuerte und nun auf H-Gas umgestellt wird. Die Marktraumumstellung setzen in Nordwestdeutschland hauptsächlich 35 zertifizierte Fachfirmen um
Quelle: EWE Netz/Carsten Heidmann

 

Montag, 17.01.2022, 09:45 Uhr
Georg Eble
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitungsausgabe - Vorzeitig alle high
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitungsausgabe
Vorzeitig alle high
Die Umstellung von L- auf H-Gas ist das größte Projekt der deutschen Gasbranche seit dem Ende des Stadtgases in Ostdeutschland. Es drohte zum Fiasko zu werden, jetzt läuft es exzellent.
In Deutschland wird ein Großprojekt überhaupt fertig und dann auch noch vorzeitig. Was wie ein politischer Witz anmutet, könnte 2029 Wirklichkeit werden: Bis dahin sollen nach 14 Jahren 5,292 Mio. Verbrauchsgeräte, vor allem Heizungen, im Norden und Westen von L- auf H-Gas umgestellt sein, von Low Calorific Gas mit weniger Methan und geringeren Brennwerten auf High Calorific Gas. Ganz Deutschland wird high. Der Grund: Bis 2029 wird Holland, das für 60 % der deutschen L-Gas-Einspeisung steht, nichts mehr exportieren. Im erdbebengeplagten L-Gas-Großfeld bei Groningen ist schon diesen Oktober Schluss. L-Gas geht auch in Niedersachsen zur Neige, woanders gibt es keines.

Edit: Nach Redaktionsschluss der E&M-Druckausgabe 1/2021 berichtete der Spiegel am 10. Januar 2022, dass aufgrund einer hohen Bedarfsanmeldung aus Deutschland aus dem Feld Groningen im laufenden Gaswirtschaftsjahr doch noch 7,8 Mrd. Kubik L-Gas (statt 3,9 Mrd.) gefördert werden sollen. Der scheidende holländische Wirtschaftsminister Stef Blok habe sich darüber bei seinem deutschen Kollegen Robert Habeck (Grüne) beschwert und Deutschland zu Energieeinsparungen aufgefordert.

Bevor H-Gas aus Russland und Norwegen übernimmt, müssen jedes Verbrauchsgerät und so manche Verdichter- oder Übergabestation anders eingestellt sein. Heizungen bekommen H-Gas-Düsen, sonst streiken sie mit Alarmton. Bei Industriebetrieben mit flammpunktsensiblen Prozessen verhindert diese Marktraumumstellung gar Millionenschäden.

„Die Ferngasnetzbetreiber haben im letzten Netzentwicklungsplan die letzten Schaltungen auf 2027 bis 2029 vorgezogen“, berichtete Michael Rabenau auf E&M-Anfrage. Mit „Schaltungen“ meint der Seniorberater in der Marktraumumstellung im Auftrag von BBH Consulting den Tag, an dem erstmals H-Gas über die Übergabestation ins Verteilnetz strömt und das letzte L-Gas rausdrückt. Der Maschinenbau- und Wirtschaftsingenieur hat einen der besten Überblicke über das Thema. Seit 35 Jahren in der Gasbranche, gehört er einschlägigen Gremien der Normierer DVGW und DIN an, referiert bei der Verteilnetzbetreiber-Arbeitsgemeinschaft Erdgasumstellung (Arge Egu), berät betroffene VNB. Er sagt, nach 2030 blieben nur 10.000 L-Gas-Geräte übrig statt wie ursprünglich geplant 400.000.

Den Anlass sieht Rabenau darin, dass die spezialisierten Umstellungsunternehmen sonst ihre Kapazitäten heruntergefahren hätten und dann die Marktraumumstellung „auf der letzten Meile teuer geworden wäre“. Ganz im ursprünglichen Budget von 1,68 Mrd. Euro bleibt das Großprojekt ohnehin nicht. Rabenau rechnet mit gut 2 Mrd. Euro. Sie werden auf die Ferngasausspeiseentgelte umgelegt. Dieses Jahr beläuft sich der Wälzbetrag auf 73,35 Ct/kWh/h, etwas mehr als 2021. Am Ende zahlen das alle deutschen Gaskunden, auch jene, die schon immer H-Gas hatten, so ist es im Energiewirtschaftsgesetz politisch gewollt.

Es wird 2029 freilich keine Jubelfeier geben. Erstens läuft die Marktraumumstellung als langweiliges Gastechnikthema unter dem bundespolitischen Radar. Zweitens gibt es keinen zentralen Bau, bei dem ein Kanzler oder eine Kanzlerin auf einen Buzzer drücken könnte, wenn sich er oder sie überhaupt noch vor dem fossilen Energieträger sehen lassen will, sondern nur einige neue abgelegene Verdichterstationen und längst wieder zugebuddelte neue Leitungsabschnitte. Und die Haushalte werden von ihrer Umstellung in 97 % der Fälle nicht viel mehr mitbekommen haben als einen Monteur oder eine Monteurin, die ihre Geräte zwei Jahre vorher erfasste, und einen anderen, der sie kurz vor oder beim „Schalttermin“ anpasste.

Drittens: Zwar ist die Marktraumumstellung zentral geplant, nämlich
  • von der Bundesnetzagentur (BNetzA) überwacht,
  • von der Vereinigung der Ferngasnetzbetreiber (FNB) alle zwei Jahre in den Netzentwicklungsplänen (NEP) Gas orchestriert,
  • von der gesamten Gaswirtschaft in den jährlichen Kooperationsvereinbarungen feingetunt, deren zwölfte (KoV XII) seit Oktober 2021 gilt,
  • und vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches flankiert, etwa mit Montierendenschulungen gemäß seinem Datenblatt G 695 und mit einer Datenbank, die alle jemals erfassten Geräte umfasst,
doch die operative Detailarbeit am Großprojekt läuft dezentral bei 125 betroffenen VNB. Sie müssen, egal ob kommunal oder privat, alle Umstellungsdienstleistungen ausschreiben, und zwar in drei verschiedenen Rollen − andernfalls bleiben sie auf den Kosten sitzen. Bewerber sind darauf spezialisierte Dienstleister sowie einige wenige große VNB, die Fachpersonal von der DVGW Cert extra dafür zertifizieren ließen. „Ein Umstellungsmonteur muss theoretisch über 23.000 verschiedene Geräte aus der DVGW-Datenbank anpassen können“, sagt Michael Rabenau.

Insgesamt 850 Montierende sind mittlerweile für die Umstellung qualifiziert. Das ist ein bisschen höher als die Zahl, die Arge Egu für den Peak des Großprojekts − der war 2021 − gefordert hatte, damit es keine Verzögerungen gibt. Verzögerungen können das Projekt als Ganzes gefährden, denn die Reihenfolge der Umstellungen ist von den FNB auch nach technischen Zwängen wie ein Dominospiel festgelegt: Man muss ganz hinten hinter den Wurmfortsätzen von L-Gas-Fernleitungen beginnen − das war 2015 in Schneverdingen in der Heide − und dann mit dem zweithintersten Verteilnetz oder Industriebetrieb weitermachen und so fort, bis zu den letzten einheimischen Produktionsstätten und den Importpunkten aus Holland.

Scheitert der Schalttermin im hintersten Netz, muss es immer noch L-Gas bekommen, damit weiter geheizt werden kann. Dann muss aber das zweithinterste an derselben Fernleitung mit seinem H-Gas-Schalttermin warten, weil diese nur entweder die eine oder die andere Gasqualität führen darf.

Der zweite Sachzwang ist das Umstellungspersonal: Es schwillt nach dem Schalttermin in einem Verteilnetz oder in einem Schaltbezirk eines größeren Verteilnetzes auf das Sechsfache des normalen Netzbetriebs an. Noch am Schalttag müssen die Montierenden zu den Haushalten. Das schafft kein VNB allein mit seinen Leuten. Sie brauchen die Dienstleister, die sich als fahrende Techniker quer durch den Nordwesten arbeiten. Bleiben sie in einem Netz länger als geplant, ziehen sie zu spät zum nächsten zugeschlagenen Netz um.

Am Anfang, 2015, drohte genau das, hatte die Arge Egu gewarnt, weil es zu wenig Personal gab. Die letzte flächendeckende Umstellung − jene des gesamten Ostens von Stadt- auf Erdgas − war längst vergessen, das letzte Unternehmen, die Begatec, hatte seinen Marktraumumstellungsbereich aufgelöst, entließ viele Fachkräfte. Für die 2020er-Jahre, so die Arge Egu damals, fehlten allein 310 Montierende.

Goldgräberstimmung kam auf

Es kam anders. „Es herrschte Goldgräberstimmung“, erinnert sich Rabenau. „Alle (entlassenen; d. Red.) Monteure hatten nahezu umgehend wieder Arbeit in den sich neu gründenden Firmen der Marktraumumstellung.“ 2008, vor der großen Welle, erlöste die Umstellung pro Gerät in Nordhorn (Niedersachsen) ihm zufolge noch 114 Euro. „Heute ist − bei wesentlich erweiterten Anforderungen − mit 280 bis 350 Euro pro Gerät zu rechnen. Ein Umstellungsmonteur macht im Mittel ungefähr 700 Euro Umsatz pro Tag.“ Laut Marktgerüchten beschäftigen die größten Dienstleister − Gatter3, Eltel vormals U-Serv, Enermess und LPR Energy − jeweils zwischen 65 und 90 Montierende.

Die zweite Gefahr für das Großprojekt war Covid. Im ersten Lockdown ging im März 2020 nichts mehr, Monteure und Monteurinnen durften erst mal nicht in die Gebäude, Dienstleister waren am Rande der Pleite. Die Arbeit wurde aber nach einer Neubewertung der Risiken und unter Corona-Schutz „rasch“ nachgeholt, so die BNetzA zu E&M. Ende 2020 waren ihr zufolge „über 99 Prozent der Geräte wie geplant angepasst“. Da half auch die Kehrseite von Covid: Die Verbrauchenden waren häufiger auf Anhieb daheim anzutreffen.

Und jetzt? Zwar steht die größte Großstadt, Köln, noch bevor, ebenso Düsseldorf, Münster, Wuppertal. Doch 2021 war der Peak der Umstellung mit 571.000 Geräten. Die Großräume Bremen und Hannover wurden komplett high. „Wir haben 1,5 Millionen Anpassungen hinter uns, das sind 28 Prozent. Und es ist bislang nichts passiert“, äußert sich Michael Rabenau erleichtert. „Es gab im erwartbaren Rahmen gelegentlich Störungen an Verbrauchsgeräten.“ Erhoben seien knapp 2 Mio. oder 37 % der Geräte.

Das Großprojekt sei quantitativ „fast geschafft“, referierte Rabenau im November 2021 laut Folie bei der Arge Egu. 90 % der Aufträge und alle Großstädte außer Münster (2029) seien vergeben, entweder offiziell oder „indikativ“; damit meint er, dass einige Zuschläge an bestimmte Dienstleister wahrscheinlich sind. Nur 35 Netzbetreiber müssen noch ausschreiben.

Und schon die nächste Umstellung

Aber auch H-Gas stößt bei der Verbrennung CO2 aus. Die Dekarbonisierungsfrage bleibt und damit auch die Frage nach der nächsten Umstellung: der auf Wasserstoff. Die FNB hatten im NEP im Januar 2021 ein 1.200 Kilometer langes „Startnetz“ mit 100 % Wasserstoff zur Konsultation gestellt, das zu 90 % durch bisherige Erdgasleitungen führen soll. 2025 sollte es in der „Grüngasvariante“ schon 471 Kilometer umfassen, mit Schwerpunkten in eben demselben Nordwestdeutschland. Die BNetzA hat den FNB dieses separate 100-%-Wasserstoffnetz gestrichen, dafür sei ein NEP Gas nicht der richtige Ort.

Die offene Zukunft des Netzes beschäftigte im vergangenen November laut Mitteilung auch die Arge Egu: „Bei Schaltterminen ab 2025 ergeben sich Zielkonflikte zwischen Erdgasumstellung und Klimaneutralität“, sagte Peter Bergmann, Vorstand von BBH Consulting. Der Gasabsatz gehe zurück, eine Stilllegung von Teilnetzen sei denkbar. Und die Ampel will laut Koalitionsvertrag bis 2030 die Hälfte der Wärme klimaneutral erzeugt sehen.

2026 berät Michael Rabenau seine letzte Marktraumumstellung. Danach will er mit 70 in Pension gehen, kurz vor dem glorreichen Ende des Großprojekts.
 
Eine solche Düse muss bei jedem Heizungsbrenner ausgetauscht werden, der bislang L-Gas verfeuerte und nun auf H-Gas umgestellt wird. Die Marktraumumstellung setzen in Nordwestdeutschland hauptsächlich 35 zertifizierte Fachfirmen um
Quelle: EWE Netz/Carsten Heidmann

 

Montag, 17.01.2022, 09:45 Uhr
Georg Eble

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