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Brüssel fällt die politisch delikate Aufgabe zu, nach dem Verhandlungsabbruch für bilaterale Verträge die Regeln für die Sicherstellung des Netzbetriebs mit dem Land zu definieren.
Die Verhandlungen über das Stromabkommen sind das Drama im Drama der qualvollen Geschichte der Schweiz mit der Europäischen Union: Seit Mitte der 1990er Jahre schleppen sich Gespräche und Verhandlungsrunden über einen Elektrizitätsvertrag hin ohne Aussicht auf eine Übereinkunft. Aktuell ist die Schweiz aus nahezu allen politischen Gremien des Energiebinnenmarktes sowie – als Staat – von der Teilnahme ausgeschlossen. Bis sie den EU-Akteuren Gegenrecht in ihrem Land gewährt, statt sich weiter abzuschotten, wie es in Brüssel heißt. Pendent ist die Frage, ob sie aktuell Mitglied im europäischen Stromverband Entso-E bleiben kann.
Verbundnetz wackelt ohne bilaterale Übereinkunft
Nachdem sich die Schweizer am 26. Mai aus den laufenden zweistaatlichen Verhandlungen genommen hat, liegt nun der politisch delikate Ball bei Brüssel und den 27 Mitgliedsstaaten. Es muss geklärt werden, welche unbedingt notwendigen technischen Fragen für einen sicheren Betrieb des Verbundnetzes, in das die Schweiz wie kein zweites Land eingebunden ist, mindestens gelten sollen – und müssen. Ansonsten droht sich wegen fehlender internationaler Koordination ein Blackout wie im September 2003 in Italien zu wiederholen, als die Schweizer und die europäischen Netzpartner zu lange benötigten, sich zu verständigen. Sekunden später tauchte fast ganz Italien ausgerechnet in der „Weißen Nacht“, in die stromlose Dunkelheit eines Blackouts.
Das Fernbleiben vom Energiebinnenmarkt will die Schweizer Landesregierung mit noch nicht näher benannten "Auffangmaßnahmen" ausgleichen, wie sie ankündigte. Dazu zählt eine undefinierte "Energiereserve" beim Strom und schon länger ist eine "strategische Speicherreserve" in Diskussion, die den Pumpspeicherbetreibern eine gesetzliche Mindesthaltung vorschreiben würde.
Grundsätzlich verfügt die Kraftwerksflotte mit etwa 22.000 MW über genügend Leistung, ihren Spitzenbedarf von 12.000 MW abzudecken. Wobei die vier Kernkraftwerke 3.000 MW stellen, aber knapp die Hälfte zur Erzeugung beisteuern. Die zweite Hälfte stammt aus Speicherseen und Laufwasserkraftwerken. Ein Problem ist, dass die Energiewende trotz gültigem Atomausstieg nur schleppend vorankommt. Damit akzentuiert sich die Debatte um die „Winterlücke“. Wenn der traditionelle Import von Elektrizität aus Frankreich und Deutschland im Winter schwieriger wird, droht er zum Politikum zu werden.
Businesspläne für neue Pumpspeicherwerke Makulatur
Für die Schweizer bedeuten die Barrieren zur EU, dass die Businesspläne für die neuen Pumpspeicherwerke Linth-Limmern und Nant de Drance von rund 5 Mrd. Franken Makulatur sein dürften, wie es heißt. Zudem ist fraglich, ob die 20 Mrd. kWh/Jahr aus Importverträgen mit französischen KKW „privilegiert“ importiert werden können wie bisher. Die Entprivilegierung dürfte diese verteuern. Die Schweiz importiert etwa 30 Mrd. kWh/Jahr aus Deutschland und Frankreich und exportiert rund 36 Mrd. kWh/Jahr nach Italien (Zahlen von 2019). Sie handelt ihren Strom an der EEX in Euro, was der Verhandlungsabbruch hierzu für die 70 Teilnehmer heißt, ist noch offen.
Bereits seit Jahren warnt die Verbundgesellschaft Swissgrid vor Nachteilen durch das Abseitsstehen des Energiebinnenmarkts. Insbesondere die ungeplanten Stromflüsse an den 41 Kuppelstellen bereiten am Sitz der Swissgrid in Aarau große Sorgen. Zudem stellt sich die Frage, wer für die international bedingten, aber in der Schweiz durchgeführten Redispatch- und Balancing-Maßnahmen finanziell aufkommt.
Schweiz am SAFA beteiligt
Immerhin bewahrte sich Swissgrid letztes Jahr als Entso-E-Mitglied eine Teilnahme beim Synchronous Area Framework Agreement for Regional Group Continental Europe (SAFA). Die Eidgenössische Elektrizitätskommission (Elcom) bemüht sich nun verstärkt mit jedem der 14 für die Schweiz wichtigen Nachbarländern um zweiseitige technische Verträge zur Netzsicherstellung. Frühere Anläufe verliefen indessen im Sand, weil Deutschland einer EU-weiten Regelung den Vorzug gab.
Avenir Suisse, ein wirtschaftsliberales Institut, machte in einem Kommentar zum unilateralen Verhandlungsabbruch, der viele EU-Politiker seiner Stillosigkeit wegen vor den Kopf gestoßen hat, auf diese Besonderheit aufmerksam: Normalerweise bedeute ein vertragsloses Handeln Autonomie in der Politik; im Stromgeschäft aber verhält es sich genau genommen umgekehrt. Es bedeutet den Verlust über die Kontrolle des eigenen Netzes, weil es dazu zwingend Abmachungen benötigt.
Phasenschieber an jeder Kuppelstelle, was die Rechtsnationalisten vorschlagen, würden die Kosten sogar ins Lächerliche treiben. Indes dürften die Verbraucher in der Schweiz schon heute im Strombereich um die 100 bis 200 Mio. Franken pro Jahr mehr zahlen, als wenn sie am Strombinnenmarkt beteiligt wären.
Freitag, 28.05.2021, 14:24 Uhr
Marc Gusewski
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