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In Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde das größte Atomkraftwerk Europas, Saporischschja beschossen. England und Frankreich sprechen von einem gezielten Angriff.
(dpa) − Ein Feuer auf dem Gelände des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja hat in der Nacht zum 4.
März Alarmstimmung ausgelöst. Der britische Premier Boris Johnson sprach in einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj von einer direkten Gefährdung der Sicherheit ganz Europas und will eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates erreichen. Saporischschja ist der größte Meiler Europas (siehe Kasten).
Nach dem Vorrücken russischer Truppen zu Europas größtem Atomkraftwerk in der Nähe der Großstadt Saporischschja brach ein Feuer in einem Schulungsgebäude der Anlage aus. Am Morgen wurde es laut dem ukrainischen Innenministerium gelöscht. Es sei keine erhöhte Radioaktivität gemessen worden, teilte die ukrainische Aufsichtsbehörde der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) mit. Russische Truppen hätten das Kraftwerk besetzt. Russland äußerte sich zunächst nicht. Der IAEA zufolge wurden zwei Sicherheitsmitarbeiter des AKW verletzt, es war aber kein Zusammenhang mit dem Beschuss oder dem Feuer klar.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem gezielten Beschuss von Reaktorblöcken durch russische Panzer. Energieminister Herman Haluschtschenko forderte ein Eingreifen der Nato.
England: "Erster Angriff auf aktives AKW""Dies ist das erste Mal, dass ein
Staat ein (mit Brennstäben) bestücktes und funktionierendes
Atomkraftwerk angegriffen hat. Und es ist eindeutig durch das
Völkerrecht und die Genfer Konventionen verboten», sagte die
britische UN-Botschafterin Barbara Woodward vor einer
Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats.
Ihr französischer Kollege Nicolas de Rivière sagte, der Vorfall "impliziert einen Angriff" auf das AKW. US-Präsident Joe Biden forderte Russland auf, militärische Aktivitäten in dem Gebiet einzustellen.
Schwedens
Außenministerin Ann Linde forderte auf Twitter die wirksame Kontrolle des Kraftwerks durch die ukrainischen Behörden trotz der russischen Besetzung.
Die meisten Blöcke sind übers technische Lebensende hinaus
Die Ukraine unterhält an vier Standorten Atomkraftwerke. Insgesamt werden dort 15
Druckwasserreaktoren mit einer installierten Gesamtleistung von 13.800
MW
betrieben. Das AKW Saporischschja am Dnjepr im Südosten des Landes ist mit sechs Reaktoren und einer Gesamtleistung von 6.000
MW das größte in ganz Europa. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) war am 4.
März allerdings nur einer der sechs Blöcke in Betrieb. Die anderen seien abgeschaltet worden oder wegen routinemäßigen Wartungsarbeiten außer Betrieb, hieß es in Wien.
Weitere Atomkraftanlagen stehen bei Riwne (vier Reaktoren) und Chmelnyzkyj (zwei) im Nordwesten sowie bei Mykolajiw (drei) im Südwesten. Am Standort Tschernobyl, wo sich 1986 ein GAU ereignet hatte, sind alle Reaktoren stillgelegt.
Das Land bezieht mehr als die Hälfte seines Stroms aus der Atomkraft. Alle ukrainischen Reaktorblöcke gehen auf sowjetische Pläne zurück. 13
Einheiten gehören zum VVER-1000-Typ, zwei weitere gehören zum Typ VVER-440, der nicht mehr vollständig den internationalen Sicherheitsstandards entspricht. 12
Reaktoren haben ihre geplante Lebensdauer von 30
Jahren überschritten. Ihre Laufzeiten wurden um 10 (VVER-1000 Reaktoren) beziehungsweise 20
Jahre (VVER-440-Reaktoren) verlängert.
Neue atomare Brennstäbe werden importiert - zumeist aus Russland, aber auch vom US-Konzern Westinghouse. Der amerikanische Energieriese soll auch am Neubau von vier Reaktorblöcken an bestehenden Standorten beteiligt werden, wie im Herbst 2021 vereinbart wurde.
"Nuklearterrorismus"Litauen
hat das Vorrücken russischer Truppen ins zivile AKW
Saporischschja als "Nuklearterrorismus und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verurteilt. Einen entsprechenden Tweet veröffentlichte Staatspräsident
Gitanas Nauseda. "Ich fordere eine sofortige internationale Reaktion
auf Russlands Nuklearverbrechen".
Regierungschefin Ingrida Simonyte sagte in Vilnius zu den
Berichten
über den Angriff auf die Kernkraftanlage: «Dies zeigt, dass es für
Putins Armee keine Grenzen und Beschränkungen gibt.» Sie
versicherte
der Bevölkerung des baltischen EU- und Nato-Landes, dass litauische
Behörden die Situation
genau beobachteten. Bislang sei keine erhöhte
Strahlung in Litauen festgestellt worden, sagte sie unter Verweis
auch auf eine Mitteilung der zuständigen Aufsichtsbehörde
des an
Russland und dessen Verbündeten Belarus grenzenden Landes.
"Ein Angriff auf Meiler könnte Angriff auf Nato sein"CDU-Chef Friedrich Merz hält einen Eingriff der Nato in den Ukraine-Krieg für möglich, wenn es gezielte Angriffe auf Atomkraftwerke geben sollte. "Es kann eine Situation geben, in der dann auch die Nato Entscheidungen treffen muss, Putin zu stoppen", sagte Merz am Freitag dem Radiosender NDR Info. So weit sei es aber
nicht, betonte er. Wenn allerdings Atomkraftwerke angegriffen würden, "wenn möglicherweise sogar die Reaktorblöcke getroffen werden sollten, dann sind wir unmittelbar bedroht von den Auswirkungen dieses Krieges". In diesem Fall müsse die Nato darüber nachdenken, ob das auch ein Angriff auf das eigene Territorium sei. Er gehe davon aus, dass in Regierungen, EU und Nato über dieses Szenario nachgedacht werde, sagte Merz.
Freitag, 4.03.2022, 09:44 Uhr
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