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Aus Der Aktuellen Zeitungsausgabe

"Erdgas wird im Ãœbergang unverzichtbar sein"

Gerald Linke, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW), spricht im E&M-Interview über die aktuelle Lage an den Energiemärkten.
 
Gerald Linke, Vorstandsvorsitzender des Deutschen
Vereins des Gas- und Wasserfaches, setzt zum Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft auf Beimischung zum Erdgas
Quelle: DVGW / Tatiana Back Kurda

E&M: Erdgas ist als Brückentechnologie beim Übergang in eine Zukunft mit Wasserstoff gefragt. Wie ist der Stand der Dinge, wo soll es hingehen?

Linke: Wir haben uns konkret darauf eingestellt, dass wir beim Wasserstoff auf Beimischung setzen und so zu niedrigen Kosten einsteigen können. Für den Anfang wurden 20 Prozent festgelegt. Die Geräte sind im Labor mit 23 Prozent getestet, dadurch liegen wir auf der sicheren Seite. Aber auch größere Prozentsätze sind möglich und die Geräteindustrie bereitet gerade den Weg dafür, dass neue smarte Gasgeräte mit jedem Gemisch zuverlässig und effizient laufen werden, Geräte, die wie die heutigen Gasbrennwertgeräte eine günstige und langlebige Heizungstechnik darstellen. Das würde eine große Sogwirkung für den Wasserstoff erzielen, was auch im Sinne der Bundesregierung wäre, die ja einen Markt kreieren will. Perspektivisch werden wir Leitungen und Anwendungen auf 100 Prozent auslegen.

E&M: Was passiert zur Vorbereitung in den Gasnetzen?

Linke: Die Initiative ‚H2 vor Ort‘ mit 41 Verteilnetzbetreibern arbeitet an einem Netztransformationsplan, der die Umstellung auf 100 Prozent Wasserstoff anstrebt. Dabei handelt es sich um ein mehrstufiges Verfahren. Zunächst wird im eigenen Marktgebiet der Wasserstoffbedarf ermittelt. Dann wird geplant, in welcher Reihenfolge die Netze umgestellt werden müssten und was es kostet. Der DVGW stellt den Unternehmen bereits jetzt einen Leitfaden zur Verfügung. Er liefert einen kompakten Ãœberblick über die relevanten Änderungen in den technischen Vorschriften. In diesem Jahr wird zudem eine Netzumstelldatenbank veröffentlicht. Damit lassen sich Anpassungskosten für Verteil- und Transportnetze ermitteln und lässt sich der Beschaffungsprozess für einzelne Komponenten beschleunigen.

E&M: Und was bedeutet die Umstellung beziehungsweise Beimischung von Wasserstoff für den Kunden?

Linke: Wir wissen, dass die im Bestand befindlichen Geräte grundsätzlich 20 Prozent Wasserstoff vertragen. Um das in der Praxis und für den Zeitpunkt des Spitzenleistungsabrufs − also an extrem kalten Wintertagen − zu demonstrieren, führen wir ein Innovationsprojekt mit Avacon durch. In einem Teilnetz im Raum Fläming werden dem Erdgas in dieser Heizperiode stufenweise bis zu 20 Prozent Wasserstoff zugefügt. Alle Geräte der 350 Endkunden, die vor allem der Wärmeversorgung dienen, wurden bereits im letzten Winter erfolgreich mit Prüfgas getestet.

E&M: Das Hochsetzen des Wasserstoffanteils erfolgt also schrittweise, wie sieht die Zukunft aus?

Linke: Die europäische Geräteindustrie plant, demnächst erste Neugeräte in den Verkehr zu bringen, die für 20 Prozent Wasserstoffbeimischung zertifiziert und leistungsoptimiert sind. In einem weiteren Schritt sollen ab 2029 nur noch Geräte auf den Markt gebracht werden, die für 20 Prozent Wasserstoffbeimischung geeignet sind und später auf 100 Prozent umgerüstet werden können beziehungsweise sich automatisch selbst nachjustieren − sogenannte selbstadaptierende Geräte. Branchenvorreiter werden sogar schon 2024 diese intelligenten Geräte anbieten.

E&M: Kernkraft-Aus und früherer Kohleausstieg, da wird es jetzt sicher noch mal einen Boom geben beim Erdgas?

Linke: Erdgas wird im Ãœbergang unverzichtbar sein. Im Vorfeld der Braunkohle-Ausstiegsbeschlüsse haben wir gesagt, dass wir die entstehende Lücke von 21 Gigawatt mit den vorhandenen Gaskraftwerken vollständig schließen können. Wenn auch die Steinkohle und die Kernenergie ausgephast werden, müssen wir neue Gaskraftwerke zubauen. Denn diesen Wegfall können weder die Erneuerbaren noch bestehende Gaskraftwerke in der Kürze der Zeit kompensieren. Die Lücke beziffern wir mit minimal 36 Gigawatt und bis zu 58 Gigawatt, je nachdem, wie stark der Strommarkt weiter parallel wächst, um etwa den Mobilitätssektor zu bedienen. Der Umstieg von Kohle auf Gas bringt schon eine enorme Treibhausgaseinsparung: Circa 130 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr − das ist eine der wirksamsten Klimaschutzmaßnahmen überhaupt. Wenn man später nochmal Gas durch Wasserstoff ersetzt, ist das der nächste entscheidende Schritt zur Klimaneutralität, der mit wesentlich geringeren Investitionen im Kraftwerkssektor einhergeht.

E&M: Gibt es denn überhaupt genug Gasleitungen für neue Kraftwerke?

Linke: Wenn es zum Zubau neuer Gaskraftwerke kommt, gehe ich davon aus, dass wir zumindest das bestehende System verstärken müssen. Man kann Kapazitäten aber nicht nur dadurch schaffen, dass man Parallelleitungen baut, sondern beispielsweise Zwischenverdichtungen auf einer Transportroute vornimmt.

E&M: Die Gaspreise sind gerade ein unvermeidliches Thema. Was können wir in Deutschland tun, um zu stabileren Verhältnissen zu kommen?

Linke: Der Gaspreis ist deswegen so hoch, weil es eine Verknappung durch Produktionsausfälle gegeben hat. Ein weiteres Element sind die Speicher, die nicht vollgefüllt waren, schließlich die in vielen Ländern im Herbst zu verzeichnende Post-Corona-Konjunktur, die stärker als erwartet anzog. Wir haben einen weltweiten Energiehunger nach Gas als einen Energieträger, der im Vergleich etwa zur Kohle Klimaziele wesentlich besser unterstützt. Es sind letztlich funktionierende Marktkräfte, die nach Jahren niedriger Beschaffungspreise dann zu Preiserhöhungen führen.

E&M: Wie ist die aktuelle Situation im Vergleich zu anderen Hochpreisphasen zu sehen?

Linke: Wenn man zurückschaut − und ich bin jetzt 26 Jahre im Geschäft −, dann waren die Gaspreisschwankungen immer gering im Gegensatz zu den anderen Preisschwankungen, die wir erlebt haben. Das lag daran, dass das Versorgungssystem − das heißt die Bezugsländer und die Routen − immer weiter ausgebaut wurde und gleichzeitig die globale Produktion gesteigert werden konnte. Das sind klare Zeichen dafür, dass der Gaspreis mittel- und langfristig niedrig bleiben wird. Auch reichen allein die konventionellen Gasvorräte noch mehrere Hundert Jahre. Wir können damit rechnen, dass wir im Frühjahr wieder eine Entspannung des Preises sehen werden.

E&M: Wäre mehr Speicherkapazität eine Lösung, um die Schwankungen aufzufangen?

Linke: Wir sind in Deutschland schon sehr gut ausgestattet und können 20 Prozent unseres Jahresabsatzes aus Speichern decken. Das ist eine gute Rate, verglichen mit anderen europäischen Ländern. Wichtig ist aber Flexibilität, die man nur dann hat, wenn die Speicher gefüllt sind oder man es in Lieferverträgen so vereinbart hat. Wenn man dies nicht in langfristigen Verträgen verankert hat, muss man Gas auf dem Spotmarkt kaufen und ist den Preisschwankungen ausgeliefert.

E&M: Langfristige Verträge als Lösung?

Linke: Ich komme aus einer Zeit, in der es Verträge mit einer Laufzeit von über 30 Jahren gab. Heutzutage gelten bereits fünf Jahre als langfristig und der Wert solcher Sicherungen wurde nicht mehr genau erkannt. Ich schätze aber, dass in vielen Kommunen jetzt ein Umdenken beginnt.

E&M: LNG (Flüssigerdgas) hat sich in der Vergangenheit auch nicht als sichere Lösung gezeigt: Europa bekam nur das, was Asien nicht wollte.

Linke: Wenn man sich die Auslastung der LNG-Terminals anschaut, sieht man, dass reichlich Kapazität da ist, die man hätte noch buchen können. Im Gegensatz zum leitungsgebundenen Geschäft ist das LNG-Geschäft ein absolut globales. Der Meistbietende erhält den Zuschlag. Einige Länder haben auch gar keine andere Möglichkeit, als LNG zu kaufen. In Europa gibt es zur Entfaltung des LNG-Handels also noch Luft nach oben. Natürlich steht man dabei im internationalen Wettbewerb. Und das macht sich bei den Preisen bemerkbar. Deshalb macht es Sinn, immer auch Alternativen zu haben, primär das Pipelinegas.

E&M: Es gibt Themen, an denen kommt man nicht vorbei: Wir müssen auch Nord Stream 2 ansprechen.

Linke: Infrastruktur für unsere Energieversorgung ist wichtig und sollte per se nicht negiert werden. Sie erhöht unsere Versorgungssicherheit. In Zukunft muss aber bei der Struktur der Bezugs- und Erzeugungsländer stärker diversifiziert werden. Das gilt ebenso bei der Transformation in Richtung Wasserstoff. Es wäre wichtig, außerhalb des bewährten Kreises ebenfalls nach Partnern zu suchen.

E&M: Wer wird das sein?

Linke: Beim Wasserstoff beispielsweise Nordafrika wegen der hohen Sonneneinstrahlung dort. In Europa kann es Spanien sein. Für Norddeutschland wird die Nordsee an Bedeutung gewinnen. Ein Beispiel ist hier Holland mit Ausbauprojekten, die keinen Strom mehr an Land bringen, sondern mit Pipelines auf dem Meer produzierten Wasserstoff. Im Ãœbrigen: Gerade mit Nord Stream 2 wird ja immer auch die Ukraine in Verbindung gebracht und es ergibt sich die Frage, ob man nicht die Ukraine stärker mit energiepolitischen Deals an Europa anbinden kann. Das Land hat ein großes Biomassepotenzial, es könnte Biogas erzeugen. Es gibt auch Pipelines, die gehen noch weiter östlich bis nach Kasachstan, sodass man über die bestehenden Pipelines Wasserstoff, der zum Beispiel in Kasachstan mit Windkraft hergestellt wird, und Biogas aus der Ukraine einsammeln könnte − alles mit dem Zielmarkt Deutschland.

E&M: Zurück nach Deutschland: Elektrolyseure im Norden, die den Windstrom verarbeiten, und Gaskraftwerke im Süden könnten die Stromnetze entlasten.

Linke: Genau. Kritiker führen ja immer die Konversionsverluste an. Aber wenn wir direkt offshore Wasserstoff erzeugen und über bestehende Gasnetze befördern, dann ist das hocheffizient. Der Stromnetzausbau könnte zumindest gedämpft werden. Wenn wir die Elektromobilität weiter ausbauen und neue elektrische Anwendungen wie Wärmepumpen vermehrt dazukommen, brauchen wir auch mehr Erzeugungsleistung in der Fläche − die Gaskraftwerke bereitstellen können.

E&M: Wird es genug Wasserstoff geben, wie viel können wir selbst produzieren, wie viel müssen wir importieren?

Linke: Verschiedene Studien zeigen, dass man bis 2050 eine Million Tonnen Wasserstoff im europäischen Binnenraum herstellen kann. Wir setzen da sehr auf die Norweger, die auch die CCS-Technologie (CO2-Abscheidung und Tiefenspeicherung, d. Red.) erprobt haben. Zur Frage des Verhältnisses: Heute importieren wir 90 Prozent unseres Energiebedarfs − das wird wohl auch so bleiben. Wir werden weiterhin eine hohe Importabhängigkeit haben. Wichtig ist, dass wir jetzt stärker in den Dialog mit den Lieferländern kommen.

Zur Person

Prof. Gerald Linke ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches. Der promovierte Physiker arbeitete zunächst ab 1995 bei Ruhrgas, später im Eon-Konzern. Dort leitete er unter anderem im Segment Fernleitungstransport die Betriebsregion Nord und übernahm danach die Steuerung des Kompetenzcenters Gastechnik und Energiesysteme. Es schlossen sich Aufgaben als technischer Geschäftsführer der Kokereigasnetz Ruhr GmbH an. Im Jahr seines Wechsels an die Spitze des DVGW wurde Linke zum Honorarprofessor der Ruhr-Universität Bochum berufen. Er ist Bundesdeutscher Verbandsvertreter in der Internationalen Gas-Union (IGU). Von 2018 bis 2020 war er Präsident des europäischen Gasverbands Marcogaz. Seit 2020 hat er die Präsidentschaft von ERIG (European Research Institute for Gas and Energy Innovation) inne.
 

Dienstag, 25.01.2022, 10:22 Uhr
Günter Drewnitzky
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Gerald Linke, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches (DVGW), spricht im E&M-Interview über die aktuelle Lage an den Energiemärkten.
 
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Vereins des Gas- und Wasserfaches, setzt zum Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft auf Beimischung zum Erdgas
Quelle: DVGW / Tatiana Back Kurda

E&M: Erdgas ist als Brückentechnologie beim Übergang in eine Zukunft mit Wasserstoff gefragt. Wie ist der Stand der Dinge, wo soll es hingehen?

Linke: Wir haben uns konkret darauf eingestellt, dass wir beim Wasserstoff auf Beimischung setzen und so zu niedrigen Kosten einsteigen können. Für den Anfang wurden 20 Prozent festgelegt. Die Geräte sind im Labor mit 23 Prozent getestet, dadurch liegen wir auf der sicheren Seite. Aber auch größere Prozentsätze sind möglich und die Geräteindustrie bereitet gerade den Weg dafür, dass neue smarte Gasgeräte mit jedem Gemisch zuverlässig und effizient laufen werden, Geräte, die wie die heutigen Gasbrennwertgeräte eine günstige und langlebige Heizungstechnik darstellen. Das würde eine große Sogwirkung für den Wasserstoff erzielen, was auch im Sinne der Bundesregierung wäre, die ja einen Markt kreieren will. Perspektivisch werden wir Leitungen und Anwendungen auf 100 Prozent auslegen.

E&M: Was passiert zur Vorbereitung in den Gasnetzen?

Linke: Die Initiative ‚H2 vor Ort‘ mit 41 Verteilnetzbetreibern arbeitet an einem Netztransformationsplan, der die Umstellung auf 100 Prozent Wasserstoff anstrebt. Dabei handelt es sich um ein mehrstufiges Verfahren. Zunächst wird im eigenen Marktgebiet der Wasserstoffbedarf ermittelt. Dann wird geplant, in welcher Reihenfolge die Netze umgestellt werden müssten und was es kostet. Der DVGW stellt den Unternehmen bereits jetzt einen Leitfaden zur Verfügung. Er liefert einen kompakten Ãœberblick über die relevanten Änderungen in den technischen Vorschriften. In diesem Jahr wird zudem eine Netzumstelldatenbank veröffentlicht. Damit lassen sich Anpassungskosten für Verteil- und Transportnetze ermitteln und lässt sich der Beschaffungsprozess für einzelne Komponenten beschleunigen.

E&M: Und was bedeutet die Umstellung beziehungsweise Beimischung von Wasserstoff für den Kunden?

Linke: Wir wissen, dass die im Bestand befindlichen Geräte grundsätzlich 20 Prozent Wasserstoff vertragen. Um das in der Praxis und für den Zeitpunkt des Spitzenleistungsabrufs − also an extrem kalten Wintertagen − zu demonstrieren, führen wir ein Innovationsprojekt mit Avacon durch. In einem Teilnetz im Raum Fläming werden dem Erdgas in dieser Heizperiode stufenweise bis zu 20 Prozent Wasserstoff zugefügt. Alle Geräte der 350 Endkunden, die vor allem der Wärmeversorgung dienen, wurden bereits im letzten Winter erfolgreich mit Prüfgas getestet.

E&M: Das Hochsetzen des Wasserstoffanteils erfolgt also schrittweise, wie sieht die Zukunft aus?

Linke: Die europäische Geräteindustrie plant, demnächst erste Neugeräte in den Verkehr zu bringen, die für 20 Prozent Wasserstoffbeimischung zertifiziert und leistungsoptimiert sind. In einem weiteren Schritt sollen ab 2029 nur noch Geräte auf den Markt gebracht werden, die für 20 Prozent Wasserstoffbeimischung geeignet sind und später auf 100 Prozent umgerüstet werden können beziehungsweise sich automatisch selbst nachjustieren − sogenannte selbstadaptierende Geräte. Branchenvorreiter werden sogar schon 2024 diese intelligenten Geräte anbieten.

E&M: Kernkraft-Aus und früherer Kohleausstieg, da wird es jetzt sicher noch mal einen Boom geben beim Erdgas?

Linke: Erdgas wird im Ãœbergang unverzichtbar sein. Im Vorfeld der Braunkohle-Ausstiegsbeschlüsse haben wir gesagt, dass wir die entstehende Lücke von 21 Gigawatt mit den vorhandenen Gaskraftwerken vollständig schließen können. Wenn auch die Steinkohle und die Kernenergie ausgephast werden, müssen wir neue Gaskraftwerke zubauen. Denn diesen Wegfall können weder die Erneuerbaren noch bestehende Gaskraftwerke in der Kürze der Zeit kompensieren. Die Lücke beziffern wir mit minimal 36 Gigawatt und bis zu 58 Gigawatt, je nachdem, wie stark der Strommarkt weiter parallel wächst, um etwa den Mobilitätssektor zu bedienen. Der Umstieg von Kohle auf Gas bringt schon eine enorme Treibhausgaseinsparung: Circa 130 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr − das ist eine der wirksamsten Klimaschutzmaßnahmen überhaupt. Wenn man später nochmal Gas durch Wasserstoff ersetzt, ist das der nächste entscheidende Schritt zur Klimaneutralität, der mit wesentlich geringeren Investitionen im Kraftwerkssektor einhergeht.

E&M: Gibt es denn überhaupt genug Gasleitungen für neue Kraftwerke?

Linke: Wenn es zum Zubau neuer Gaskraftwerke kommt, gehe ich davon aus, dass wir zumindest das bestehende System verstärken müssen. Man kann Kapazitäten aber nicht nur dadurch schaffen, dass man Parallelleitungen baut, sondern beispielsweise Zwischenverdichtungen auf einer Transportroute vornimmt.

E&M: Die Gaspreise sind gerade ein unvermeidliches Thema. Was können wir in Deutschland tun, um zu stabileren Verhältnissen zu kommen?

Linke: Der Gaspreis ist deswegen so hoch, weil es eine Verknappung durch Produktionsausfälle gegeben hat. Ein weiteres Element sind die Speicher, die nicht vollgefüllt waren, schließlich die in vielen Ländern im Herbst zu verzeichnende Post-Corona-Konjunktur, die stärker als erwartet anzog. Wir haben einen weltweiten Energiehunger nach Gas als einen Energieträger, der im Vergleich etwa zur Kohle Klimaziele wesentlich besser unterstützt. Es sind letztlich funktionierende Marktkräfte, die nach Jahren niedriger Beschaffungspreise dann zu Preiserhöhungen führen.

E&M: Wie ist die aktuelle Situation im Vergleich zu anderen Hochpreisphasen zu sehen?

Linke: Wenn man zurückschaut − und ich bin jetzt 26 Jahre im Geschäft −, dann waren die Gaspreisschwankungen immer gering im Gegensatz zu den anderen Preisschwankungen, die wir erlebt haben. Das lag daran, dass das Versorgungssystem − das heißt die Bezugsländer und die Routen − immer weiter ausgebaut wurde und gleichzeitig die globale Produktion gesteigert werden konnte. Das sind klare Zeichen dafür, dass der Gaspreis mittel- und langfristig niedrig bleiben wird. Auch reichen allein die konventionellen Gasvorräte noch mehrere Hundert Jahre. Wir können damit rechnen, dass wir im Frühjahr wieder eine Entspannung des Preises sehen werden.

E&M: Wäre mehr Speicherkapazität eine Lösung, um die Schwankungen aufzufangen?

Linke: Wir sind in Deutschland schon sehr gut ausgestattet und können 20 Prozent unseres Jahresabsatzes aus Speichern decken. Das ist eine gute Rate, verglichen mit anderen europäischen Ländern. Wichtig ist aber Flexibilität, die man nur dann hat, wenn die Speicher gefüllt sind oder man es in Lieferverträgen so vereinbart hat. Wenn man dies nicht in langfristigen Verträgen verankert hat, muss man Gas auf dem Spotmarkt kaufen und ist den Preisschwankungen ausgeliefert.

E&M: Langfristige Verträge als Lösung?

Linke: Ich komme aus einer Zeit, in der es Verträge mit einer Laufzeit von über 30 Jahren gab. Heutzutage gelten bereits fünf Jahre als langfristig und der Wert solcher Sicherungen wurde nicht mehr genau erkannt. Ich schätze aber, dass in vielen Kommunen jetzt ein Umdenken beginnt.

E&M: LNG (Flüssigerdgas) hat sich in der Vergangenheit auch nicht als sichere Lösung gezeigt: Europa bekam nur das, was Asien nicht wollte.

Linke: Wenn man sich die Auslastung der LNG-Terminals anschaut, sieht man, dass reichlich Kapazität da ist, die man hätte noch buchen können. Im Gegensatz zum leitungsgebundenen Geschäft ist das LNG-Geschäft ein absolut globales. Der Meistbietende erhält den Zuschlag. Einige Länder haben auch gar keine andere Möglichkeit, als LNG zu kaufen. In Europa gibt es zur Entfaltung des LNG-Handels also noch Luft nach oben. Natürlich steht man dabei im internationalen Wettbewerb. Und das macht sich bei den Preisen bemerkbar. Deshalb macht es Sinn, immer auch Alternativen zu haben, primär das Pipelinegas.

E&M: Es gibt Themen, an denen kommt man nicht vorbei: Wir müssen auch Nord Stream 2 ansprechen.

Linke: Infrastruktur für unsere Energieversorgung ist wichtig und sollte per se nicht negiert werden. Sie erhöht unsere Versorgungssicherheit. In Zukunft muss aber bei der Struktur der Bezugs- und Erzeugungsländer stärker diversifiziert werden. Das gilt ebenso bei der Transformation in Richtung Wasserstoff. Es wäre wichtig, außerhalb des bewährten Kreises ebenfalls nach Partnern zu suchen.

E&M: Wer wird das sein?

Linke: Beim Wasserstoff beispielsweise Nordafrika wegen der hohen Sonneneinstrahlung dort. In Europa kann es Spanien sein. Für Norddeutschland wird die Nordsee an Bedeutung gewinnen. Ein Beispiel ist hier Holland mit Ausbauprojekten, die keinen Strom mehr an Land bringen, sondern mit Pipelines auf dem Meer produzierten Wasserstoff. Im Ãœbrigen: Gerade mit Nord Stream 2 wird ja immer auch die Ukraine in Verbindung gebracht und es ergibt sich die Frage, ob man nicht die Ukraine stärker mit energiepolitischen Deals an Europa anbinden kann. Das Land hat ein großes Biomassepotenzial, es könnte Biogas erzeugen. Es gibt auch Pipelines, die gehen noch weiter östlich bis nach Kasachstan, sodass man über die bestehenden Pipelines Wasserstoff, der zum Beispiel in Kasachstan mit Windkraft hergestellt wird, und Biogas aus der Ukraine einsammeln könnte − alles mit dem Zielmarkt Deutschland.

E&M: Zurück nach Deutschland: Elektrolyseure im Norden, die den Windstrom verarbeiten, und Gaskraftwerke im Süden könnten die Stromnetze entlasten.

Linke: Genau. Kritiker führen ja immer die Konversionsverluste an. Aber wenn wir direkt offshore Wasserstoff erzeugen und über bestehende Gasnetze befördern, dann ist das hocheffizient. Der Stromnetzausbau könnte zumindest gedämpft werden. Wenn wir die Elektromobilität weiter ausbauen und neue elektrische Anwendungen wie Wärmepumpen vermehrt dazukommen, brauchen wir auch mehr Erzeugungsleistung in der Fläche − die Gaskraftwerke bereitstellen können.

E&M: Wird es genug Wasserstoff geben, wie viel können wir selbst produzieren, wie viel müssen wir importieren?

Linke: Verschiedene Studien zeigen, dass man bis 2050 eine Million Tonnen Wasserstoff im europäischen Binnenraum herstellen kann. Wir setzen da sehr auf die Norweger, die auch die CCS-Technologie (CO2-Abscheidung und Tiefenspeicherung, d. Red.) erprobt haben. Zur Frage des Verhältnisses: Heute importieren wir 90 Prozent unseres Energiebedarfs − das wird wohl auch so bleiben. Wir werden weiterhin eine hohe Importabhängigkeit haben. Wichtig ist, dass wir jetzt stärker in den Dialog mit den Lieferländern kommen.

Zur Person

Prof. Gerald Linke ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches. Der promovierte Physiker arbeitete zunächst ab 1995 bei Ruhrgas, später im Eon-Konzern. Dort leitete er unter anderem im Segment Fernleitungstransport die Betriebsregion Nord und übernahm danach die Steuerung des Kompetenzcenters Gastechnik und Energiesysteme. Es schlossen sich Aufgaben als technischer Geschäftsführer der Kokereigasnetz Ruhr GmbH an. Im Jahr seines Wechsels an die Spitze des DVGW wurde Linke zum Honorarprofessor der Ruhr-Universität Bochum berufen. Er ist Bundesdeutscher Verbandsvertreter in der Internationalen Gas-Union (IGU). Von 2018 bis 2020 war er Präsident des europäischen Gasverbands Marcogaz. Seit 2020 hat er die Präsidentschaft von ERIG (European Research Institute for Gas and Energy Innovation) inne.
 

Dienstag, 25.01.2022, 10:22 Uhr
Günter Drewnitzky

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