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Quelle: E&M
Gastbeitrag

"Die Ideologie für den Moment beiseitelassen"

Der Weiterbetrieb von Atomkraftwerken könnte den Gasbedarf in Deutschland durchaus signifikant reduzieren, sagt *Christof Bauer, Berater beim Infrastrukturdiensleister Infraserv.
Niemand bezweifelt ernsthaft die Notwendigkeit, vor dem Hintergrund der massiv eingeschränkten Liefermengen aus Russland möglichst schnell und viel Erdgas einzusparen. Nach Daten der Bundesnetzagentur auf dem von ihr eingerichteten Internetportal "smard.de" wurden im vergangenen Jahr etwas über 52 TWh Strom aus Erdgas hergestellt, dies entspricht einem Erdgasverbrauch von etwa 115 TWh, also etwa 11,5 % des deutschen Gesamtverbrauchs an Erdgas im Jahr 2021.

Die bisweilen gehörte Behauptung, dass Erdgaskraftwerke zur Deckung der Spitzenlast grundsätzlich erforderlich seien, wird durch die verfügbaren Daten nicht bestätigt, wie das nachfolgende Beispiel der viertelstündlichen Erzeugung in der ersten Aprilhälfte 2022 (Grafik 1):

 
Grafik 1. Zur Vollansicht auf die Grafik klicken
Quelle: Bauer/smard.de


Steinkohlekraftwerke werden ähnlich flexibel wie Gaskraftwerke eingesetzt, und sogar die Braunkohlekraftwerke reagieren innerhalb von 15 Minuten mit über 1.500-MW-Leistungsänderung.

Bereits an dieser Stelle wird das Ausmaß deutlich, in dem die sehr konstante Stromerzeugung aus Kernkraft mit rund 4 GW nach einer Abschaltung zum Jahresende von den anderen regelbaren Kraftwerken übernommen werden müssten. Der Weiterbetrieb von Kernkraftwerken wird keinesfalls zu einer Erdgaseinsparung führen. Es muss vielmehr die Frage gestellt werden, in welchem Umfang die Abschaltung der KKW zu einer Erhöhung des Erdgasverbrauchs führt.

Einsparungen von bis zu 78 TWh Erdgas möglich

Der Datenbestand auf smard.de zeigt seit Anfang 2021, dass die summarische Erzeugungsleistung aus Gaskraftwerken in Summe bei unter 2 GW (Viertelstundenmittelwert) lag. Im Sinne eines einfachen und sehr konservativen Ansatzes kann daher davon ausgegangen werden, dass zumindest die diesen Betrag übersteigende Leistung durch die anderen fossilen Kraftwerke (inklusive Reservekraftwerke) substituiert werden könnte. Würde diese Substitution konsequent durchgeführt, könnten von den erwähnten 115 TWh Gasverbrauch demnach immerhin 78 TWh – das heißt rund Zweidrittel der Menge— eingespart werden. Je nach für 2022 anzusetzendem Gasverbrauch entspricht dies 8 % bis 9 %.

Obgleich aus dem im Vergleich zum Strom deutlich höheren Preisanstieg für Erdgas eigentlich ein massiver Rückgang der gasbasierten Stromerzeugung gegenüber 2021 zu erwarten gewesen wär – Kohlekraftwerke sind in der Merit Order derzeit in der Mehrheit deutlich profitabler und keineswegs ausgelastet—, ist in dem folgenden Diagramm der monatlichen Erzeugungsmengen nur eine sehr begrenzte Veränderung festzustellen: Zwar lag in den ersten Monaten des Jahres – anders als im Vorjahr – die gasbasierte Stromerzeugung unter der aus Steinkohle, dieser Trend hat sich jedoch in den Monaten Mai/Juni umgekehrt (Grafik 2):
 
Grafik 2. Zur Vollansicht auf die Grafik klicken
Quelle: Bauer/smard.de


Im 2. Quartal lag die gasbasierte Stromerzeugung 2022 mit dem Vorjahr annähernd gleichauf, insofern bleibt zu hoffen, dass sich marktgetrieben in der zweiten Jahreshälfte noch die zur Bewältigung der Gasmangellage dringend erforderliche Substitution einstellt.

Geradezu blitzartig kam nach dem Ausbruch der Krise die Meldung aus Wirtschafts- und Umweltministerium, dass ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke zur Erleichterung der Gaskrise gar nicht möglich sei. Nachdem nun die Luft knapper geworden ist, wird verstärkt kolportiert, dass ein Weiterbetrieb zu keiner wesentlichen Entspannung der Gasknappheit führen könnte.

Eine Untersuchung von Energy Brainpool (E&M berichtete) kommt aufgrund von Modellrechnungen zum Schluss, dass die Abschaltung „nur“ zu 8,7 TWh Erdgas Mehrverbrauch führen würde. Die Berater von Enervis kommen dem Vernehmen nach auf einen Mehrverbrauch von 12 TWh – was immerhin dem Verbrauch von einer Mio. Haushalten entspricht.

Die Ideologie für den Moment beiseitelassen

Nun zeigen die jüngsten Zahlen, dass sich die Realität derzeit leider nicht „modellgerecht“ verhält (der Mehrverbrauch könnte je nach Annahmen auch deutlich höher liegen). Und wir sollten uns bei der Lösungssuche tunlichst nicht auf die nationale Nussschale beschränken: In den Niederlanden wurden in der Stromerzeugung in 2021 über 100 TWh Erdgas eingesetzt – deutlich mehr als Dreiviertel davon könnte durch einen Weiterbetrieb der deutschen Kraftwerke tatsächlich eingespart werden, wenn durch das Hochfahren anderer fossiler Kraftwerke die derzeitige Stromerzeugung aus Erdgas und Kernkraft in Deutschland weitgehend substituiert wird. Und von dem dadurch eingesparten Erdgas könnte im Gegenzug ein fairer Anteil in Deutschland eingesetzt werden.

Natürlich müssen Vorteile und Risiken des Weiterbetriebs auch in diesem Zusammenhang sorgfältig gegeneinander abgewogen werden – dieser Abwägungsprozess muss aber nach objektiven Kriterien, wahrheitsgemäß und unter Berücksichtigung aller Aspekte erfolgen. „Geht nicht - gibt’s nicht“ hilft da nicht weiter.

*Prof. Dr. Christof Bauer, Executive Advisor Energy, Infraserv GmbH & Co. Höchst KG

 
Prof. Dr. Christof Bauer
Quelle: privat



 
 

Donnerstag, 21.07.2022, 13:06 Uhr
Redaktion
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Gastbeitrag
"Die Ideologie für den Moment beiseitelassen"
Der Weiterbetrieb von Atomkraftwerken könnte den Gasbedarf in Deutschland durchaus signifikant reduzieren, sagt *Christof Bauer, Berater beim Infrastrukturdiensleister Infraserv.
Niemand bezweifelt ernsthaft die Notwendigkeit, vor dem Hintergrund der massiv eingeschränkten Liefermengen aus Russland möglichst schnell und viel Erdgas einzusparen. Nach Daten der Bundesnetzagentur auf dem von ihr eingerichteten Internetportal "smard.de" wurden im vergangenen Jahr etwas über 52 TWh Strom aus Erdgas hergestellt, dies entspricht einem Erdgasverbrauch von etwa 115 TWh, also etwa 11,5 % des deutschen Gesamtverbrauchs an Erdgas im Jahr 2021.

Die bisweilen gehörte Behauptung, dass Erdgaskraftwerke zur Deckung der Spitzenlast grundsätzlich erforderlich seien, wird durch die verfügbaren Daten nicht bestätigt, wie das nachfolgende Beispiel der viertelstündlichen Erzeugung in der ersten Aprilhälfte 2022 (Grafik 1):

 
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Quelle: Bauer/smard.de


Steinkohlekraftwerke werden ähnlich flexibel wie Gaskraftwerke eingesetzt, und sogar die Braunkohlekraftwerke reagieren innerhalb von 15 Minuten mit über 1.500-MW-Leistungsänderung.

Bereits an dieser Stelle wird das Ausmaß deutlich, in dem die sehr konstante Stromerzeugung aus Kernkraft mit rund 4 GW nach einer Abschaltung zum Jahresende von den anderen regelbaren Kraftwerken übernommen werden müssten. Der Weiterbetrieb von Kernkraftwerken wird keinesfalls zu einer Erdgaseinsparung führen. Es muss vielmehr die Frage gestellt werden, in welchem Umfang die Abschaltung der KKW zu einer Erhöhung des Erdgasverbrauchs führt.

Einsparungen von bis zu 78 TWh Erdgas möglich

Der Datenbestand auf smard.de zeigt seit Anfang 2021, dass die summarische Erzeugungsleistung aus Gaskraftwerken in Summe bei unter 2 GW (Viertelstundenmittelwert) lag. Im Sinne eines einfachen und sehr konservativen Ansatzes kann daher davon ausgegangen werden, dass zumindest die diesen Betrag übersteigende Leistung durch die anderen fossilen Kraftwerke (inklusive Reservekraftwerke) substituiert werden könnte. Würde diese Substitution konsequent durchgeführt, könnten von den erwähnten 115 TWh Gasverbrauch demnach immerhin 78 TWh – das heißt rund Zweidrittel der Menge— eingespart werden. Je nach für 2022 anzusetzendem Gasverbrauch entspricht dies 8 % bis 9 %.

Obgleich aus dem im Vergleich zum Strom deutlich höheren Preisanstieg für Erdgas eigentlich ein massiver Rückgang der gasbasierten Stromerzeugung gegenüber 2021 zu erwarten gewesen wär – Kohlekraftwerke sind in der Merit Order derzeit in der Mehrheit deutlich profitabler und keineswegs ausgelastet—, ist in dem folgenden Diagramm der monatlichen Erzeugungsmengen nur eine sehr begrenzte Veränderung festzustellen: Zwar lag in den ersten Monaten des Jahres – anders als im Vorjahr – die gasbasierte Stromerzeugung unter der aus Steinkohle, dieser Trend hat sich jedoch in den Monaten Mai/Juni umgekehrt (Grafik 2):
 
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Quelle: Bauer/smard.de


Im 2. Quartal lag die gasbasierte Stromerzeugung 2022 mit dem Vorjahr annähernd gleichauf, insofern bleibt zu hoffen, dass sich marktgetrieben in der zweiten Jahreshälfte noch die zur Bewältigung der Gasmangellage dringend erforderliche Substitution einstellt.

Geradezu blitzartig kam nach dem Ausbruch der Krise die Meldung aus Wirtschafts- und Umweltministerium, dass ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke zur Erleichterung der Gaskrise gar nicht möglich sei. Nachdem nun die Luft knapper geworden ist, wird verstärkt kolportiert, dass ein Weiterbetrieb zu keiner wesentlichen Entspannung der Gasknappheit führen könnte.

Eine Untersuchung von Energy Brainpool (E&M berichtete) kommt aufgrund von Modellrechnungen zum Schluss, dass die Abschaltung „nur“ zu 8,7 TWh Erdgas Mehrverbrauch führen würde. Die Berater von Enervis kommen dem Vernehmen nach auf einen Mehrverbrauch von 12 TWh – was immerhin dem Verbrauch von einer Mio. Haushalten entspricht.

Die Ideologie für den Moment beiseitelassen

Nun zeigen die jüngsten Zahlen, dass sich die Realität derzeit leider nicht „modellgerecht“ verhält (der Mehrverbrauch könnte je nach Annahmen auch deutlich höher liegen). Und wir sollten uns bei der Lösungssuche tunlichst nicht auf die nationale Nussschale beschränken: In den Niederlanden wurden in der Stromerzeugung in 2021 über 100 TWh Erdgas eingesetzt – deutlich mehr als Dreiviertel davon könnte durch einen Weiterbetrieb der deutschen Kraftwerke tatsächlich eingespart werden, wenn durch das Hochfahren anderer fossiler Kraftwerke die derzeitige Stromerzeugung aus Erdgas und Kernkraft in Deutschland weitgehend substituiert wird. Und von dem dadurch eingesparten Erdgas könnte im Gegenzug ein fairer Anteil in Deutschland eingesetzt werden.

Natürlich müssen Vorteile und Risiken des Weiterbetriebs auch in diesem Zusammenhang sorgfältig gegeneinander abgewogen werden – dieser Abwägungsprozess muss aber nach objektiven Kriterien, wahrheitsgemäß und unter Berücksichtigung aller Aspekte erfolgen. „Geht nicht - gibt’s nicht“ hilft da nicht weiter.

*Prof. Dr. Christof Bauer, Executive Advisor Energy, Infraserv GmbH & Co. Höchst KG

 
Prof. Dr. Christof Bauer
Quelle: privat



 
 

Donnerstag, 21.07.2022, 13:06 Uhr
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