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Energie & Management > Aus Der Zeitung - Nicht nur zeitvariabel
Quelle: E&M
Aus Der Zeitung

Nicht nur zeitvariabel

Spätestens ab dem 1. Januar 2025 müssen Stromversorger einen dynamischen Tarif in ihrem Angebot haben. Das betrifft auch den Smart Meter Rollout.
Die Zahl der Stadtwerke, die aktuell einen entsprechenden Tarif anbieten, ist sehr überschaubar. Einige bewerben ihn auf ihrer Internetseite, einige sprechen darüber, einige lieber nicht. Man kann spekulieren, ob es daran liegt, dass sie noch keine Nachfrage nach dem Produkt registrieren oder einfach noch kein massentaugliches Produkt haben.

Es sei auch nicht zu beobachten, dass sich die Versorger nun unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes zum Neustart der Digitalisierung in die Vorbereitungen stürzen, sagt Anna Kohlmann. „Die Unternehmen haben ein sehr turbulentes Jahr 2022 hinter sich und immer noch erhebliche Herausforderungen zu meistern“, so die Leiterin des Kompetenzteams Digitale Lösungen bei der Beratungsgesellschaft BET in Aachen. Die Auswirkungen der Gaskrise, die Umsetzung der Energiepreisbremsen, die Masse der Kundenanfragen zur Preisentwicklung, der Run auf die Photovoltaik und der Beratungsbedarf beim Thema Wärme seien nach wie vor Themen, die als drängender empfunden werden und einen Großteil der personellen Ressourcen binden.

Trotzdem, mahnt Kohlmann, dürfe man die Einführung eines dynamischen Tarifs nicht aus den Augen verlieren. Nach ihrer Einschätzung sind die knapp eineinhalb Jahre bis zum Stichtag kein üppiges Zeitpolster. Die Zusammenführung von 15-minütlichen oder stündlichen Verbrauchs- und Börsenpreisdaten und nicht zuletzt die monatliche Abrechnung der Tarife lasse sich bisher nicht mit Standardabrechnungssystemen bewerkstelligen. Die dafür erforderliche Kompatibilität der unterschiedlichen Komponenten sei längst noch nicht gegeben. Gerade für die Startphase mit nur wenigen Kunden könnten externe Plattformen und Dienstleister für die Visualisierung und Abrechnung von dynamischen Tarifen eine wichtige Rolle spielen.

Und wer sich Gedanken über die Einführung dynamischer Tarife macht, kommt sehr schnell auf eine Fülle von Fragen, welche die Dimension des Projekts deutlich machen und zeigen, wie dieses sich über mehrere Marktrollen erstreckt.
Ganz zentral ist dabei die Frage nach dem Rollout der intelligenten Messsysteme. Soll man erst dann dynamische Tarife einführen und bewerben, wenn schon großflächig intelligente Messsysteme ausgerollt sind? Oder soll man sehr frühzeitig versuchen, Interesse für dynamische Tarife zu wecken und Erfahrung mit dem Produkt zu sammeln, auch wenn es möglicherweise für die grundzuständigen Messstellenbetreiber große Herausforderungen bei der Rollout-Planung mit sich bringt? Wie kann man mit den grundzuständigen oder wettbewerblichen Messstellenbetreibern gemeinsam dynamische Tarife und einen effizienten Smart Meter Rollout vorantreiben?

Keine Frage ist mehr, dass mit der Zeit die Zahl der Pflichteinbaufälle mit der steigenden Menge an Wärmepumpen, Wallboxen und PV-Anlagen in den Haushalten zunehmen wird. Dann haben die Kunden auch nennenswerte Lasten, die verschoben und optimiert werden können, und nicht nur die Waschmaschine und den Trockner. Und sie haben Lasten, die nach dem Energiewirtschaftsgesetz ohnehin steuerbar sein müssen.

Aus Sicht von Anna Kohlmann bestimmt das Potenzial der Lastverschiebung ganz entscheidend die Attraktivität eines dynamischen Tarifs. Eine wirkliche Erfolgsgeschichte werde erst bei einer automatisierten Lastverschiebung daraus. „Man kann nicht vom Kunden verlangen, dass er sein Fahrzeug im stündlichen Wechsel der Preise manuell an die Wallbox hängt und wieder abstöpselt“, gibt sie zu bedenken. Deshalb sei auch das intelligente Messsystem mit seiner CLS-Steuerfunktion so wichtig. Schließlich sei das Ziel eines solchen Tarifs, das Verbrauchsverhalten im Hinblick auf die Netzstabilität zu flexibilisieren und auch finanziell davon zu profitieren.

„Wenn dynamische Tarife die Gleichzeitigkeit des Verbrauchs maßgeblich verändern und dadurch neue Engpasssituationen herbeiführen, ist am Ende nichts gewonnen“, so Kohlmann. Die Optimierung des Energiesystems, bei dem marktbasierte Preissignale, aktuelle Verbrauchsdaten, variable Netzentgelte für Anlagen nach § 14a EnWG sowie Informationen über die aktuelle technische Verfügbarkeit von Flexibilitätsoptionen zusammenwirken, müsse das Ziel sein. Lösungen, die ausschließlich die Abrechenbarkeit dynamischer Tarife auch ohne Verwendung eines intelligenten Messsystems im Fokus haben, können nach Kohlmanns Ansicht zwar den Einstieg ermöglichen.

„Wenn am Ende der Nutzen ausschließlich durch eine manuelle Lastverschiebung entsteht, wird das für den Kunden wenig attraktiv sein. Durch eine Erweiterung um ein Energiemanagementsystem zur Optimierung seiner Last und seines Verbrauchs profitiert der Prosumer weitaus mehr von dynamischen Tarifen“, so die Beraterin. Deshalb führe letztendlich kein Weg am Einsatz der intelligenten Messsysteme mit CLS-Komponenten vorbei. 

Die Stadtwerke Villingen-Schwenningen werden einen „richtigen“ dynamischen Tarif anbieten, versichert Gregor Gülpen − einen Tarif, wie ihn sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck immer vorgestellt hat beim Versuch, den Bürgerinnen und Bürgern die Digitalisierung der Energiewende schmackhaft zu machen. Die Vorbereitungen dafür sind dem Geschäftsführer des südbadischen Versorgers zufolge im Gang.
 

Dynamischer Tarif für alle

Die rechtliche Grundlage ist das Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende, das am 27. Mai 2023 verabschiedet wurde und den § 41a des Energiewirtschaftsgesetzes geändert hat. Demnach müssen ab dem 1. Januar 2025 nicht nur wie bisher die Großen der Branche mit mehr als 100.000 Endkunden, sondern alle Stromlieferanten einen dynamischen Tarif anbieten. Dessen Preis muss sich nach den täglichen Spotpreisen an der Börse richten. Alle Letztverbraucher, die über ein intelligentes Messsystem im Sinne des Messstellenbetriebsgesetzes verfügen, müssen in diesen Genuss kommen.
 


Die Umsetzung hängt aber auch in der 88.000-Einwohner-Stadt am östlichen Rand des Schwarzwalds wie überall eng mit dem Smart Meter Rollout zusammen. Daher werde das Thema eher ein „Langläufer“ sein, wie es Gülpen formuliert. Deshalb haben die Verantwortlichen in Villingen-Schwenningen überlegt, ob sie ihren Stromkunden nicht auf der Kurzstrecke eine dynamische Lösung anbieten können. Herausgekommen ist dabei ein Tarif, der das arithmetische Mittel des börslichen Spotpreises eines Monats als Preis für den Folgemonat heranzieht.

Die Befürchtung, dass den Kunden die Granularität zu gering ist und sie deshalb zu Anbietern wie Tibber abwandern könnten, hat der Stadtwerkechef nicht und sieht sich von der aktuellen Entwicklung bestätigt. „Bei unseren Kunden hat das Produkt eine sehr gute Resonanz gefunden“, sagt Gülpen und spricht von einer „Erfolgsgeschichte“. In der Vertrauensbasis, auf die sich die Stadtwerke vor Ort stützen können, und in der Einfachheit des Produkts sieht er die Stärken. Dass sich Kunden ständig, stündlich oder täglich mit dem Börsenpreis beschäftigen wollen, glaubt er dagegen nicht. Dennoch hält er auch die Erfolgschancen von Produkten ohne automatisierte Lastverlagerung für hoch.

Knapp 2.000 Kunden haben sich für den monatsdynamischen Tarif entschieden − 30 Prozent davon seien Neukunden. Diese hätten nun die Möglichkeit, zumindest in begrenztem Umfang an Preisschwankungen zu partizipieren, ohne von intelligenten Messsystemen abhängig zu sein, beziehungsweise auf deren Rollout warten zu müssen − ob sie nun unter den Pflichteinbau fallen oder nicht.

„Stand heute gehen wir bis 2030 von 5.000 Pflichteinbaufällen pro Jahr aus“, so Gülpen. Diese Zahl werde sich wahrscheinlich mit zunehmender Elektrifizierung des Verkehrs und des Wärmesektors noch etwas erhöhen. Das mache die Rollout-Planung zu einer schwierigen Aufgabe, die aber wie so viele andere schwierige Aufgaben von den Energieversorgern und Netzbetreibern gelöst werde.

Ob sich viele Kunden der Stadtwerke Wuppertal mit stündlich wechselnden Preisen, deren Ursachen und der Anpassung des eigenen Verbrauchs beschäftigen werden, wird sich noch zeigen. Bastian Dette und seine Kollegen schaffen jedenfalls gerade die Voraussetzungen dafür. In einem Pilotprojekt, das auf 50 Haushalte angelegt ist, testen sie einen dynamischen Tarif mit zahlreichen Spezifikationen. Über ein Dashboard können die Kunden in die Vergangenheit blicken und feststellen, in welcher Stunde bei welchem Verbrauch der Vertragspreis wie hoch war.

Neben aktuellen und prognostizierten Wetterdaten, die einen Rückschluss auf die Einspeisung der Erneuerbaren zulassen, gibt das Armaturenbrett auch den Blick auf die Preisprognosen für die jeweils kommenden fünf Tage frei. Zusätzlich listet eine „Energiepreis-Uhr“ die Brutto-Vertragspreise der nächsten zwölf Stunden auf. Eine Farbskala soll dabei die Orientierung erleichtern, welche Zeiträume sich für die häuslichen Verbrauchsspitzen anbieten.

15 Teilnehmer sind bislang voll ausgestattet

Insgesamt 15 der aktuell 45 registrierten Teilnehmer sind bislang voll ausgestattet und verfügen über ein intelligentes Messsystem. Die Geräte sind obligatorisch. „Weil wir viertelstündliche Verbrauchswerte für das Matching benötigen. Deshalb ist bei allen der Tarifanwendungsfall 7 aktiviert“, erklärt Dette. Einfach ein Standardlastprofil zu hinterlegen, sei kein Thema gewesen. „Wir wollen es gleich richtig machen und einen ‚ehrlichen‘ Tarif anbieten“, so der Projektleiter.

Die Kunden müssen allerdings den Aufwand und Nutzen einer Lastverschiebung noch selbst abwägen und dann gegebenenfalls den An- oder Aus-Knopf betätigen. „Wir gehen jedoch jetzt die Frage an, wie man hier automatisieren kann“, kündigt Dette an. Kleinvieh mache zwar auch Mist, sagt er. Aber natürlich sei das Flexibilitätspotenzial bei Ladestationen und Wärmepumpen perspektivisch am größten. Diese Anlagen, die ohnehin nach gesetzlicher Vorschrift steuerbar sein müssen, haben auch die für eine Automatisierung notwendigen Schnittstellen, die bei Haushaltsgeräten längst noch nicht üblich sind.

Als nächster Schritt soll die Netzseite integriert werden. „Unabhängig von erwartbaren Änderungen in der Regulatorik testen wir die Integration einer möglichen ‚Netzampel‘, sodass auch die systemische Seite berücksichtigt werden kann“, erläutert Dette. Am Ende könne man dann auch die Netzdienlichkeit in den dynamischen Tarif einfließen lassen. Für diese gar nicht mehr allzu ferne Zukunft skizziert er folgende mögliche Szenarien: entweder zeitvariabel entsprechend den Börsenpreisen, lastvariabel auf Grundlage von Netzzuständen oder die Drosselung der steuerbaren Verbrauchseinrichtungen, wie es § 14a EnWG und die dazugehörenden Festlegungsentwürfe der Bundesnetzagentur vorsehen.

Mit dem bisherigen Verlauf der Pilotphase sind die Verantwortlichen in Wuppertal laut Dette sehr zufrieden. Von den Teilnehmern vermutet er dasselbe, nicht zuletzt, weil sie auch von einer „Fair-Preis-Linie“ profitieren. Diese begrenzt den Vertragspreis auch bei einer Preisexplosion an der Börse auf 0,50 Euro/kWh. Zum Cap nach oben gibt es allerdings auch einen Floor nach unten. Hier verläuft die Linie bei 0,15 Euro/kWh. Die Werte könnten sich durchaus von Jahr zu Jahr etwas verschieben, räumt Dette ein. Allerdings sei immer das Bestreben des Stadtwerks, seiner besonderen Verantwortung gegenüber den Kunden als lokaler Versorger nachzukommen und exorbitante Preissprünge zu einem gewissen Grad abzufedern. In den kommenden Wochen wollen die Stadtwerke das Pilotprojekt auswerten und dann, gegebenenfalls noch mit Anpassungen, den Tarif 2024 für alle Kunden öffnen. 
 

Die Krux mit dem Rollout

Grundsätzlich fällt dem jeweiligen Verteilnetzbetreiber die Rolle des grundzuständigen Messstellenbetreibers in seinem Netzgebiet zu. Damit ist er für den Rollout der intelligenten Messsysteme verantwortlich. Das bedeutet, dass er es ist, der auch die künftigen Anwendungen, den Zuwachs an Pflichteinbaufällen und ab 2025 gesetzlich verpflichtend „freiwillige Einbaufälle“ auf Kundenwunsch − auch wenn die Mindestverbrauchsschwelle für den Pflicht-Rollout nicht erreicht ist − in seinem Rollout-Plan berücksichtigen muss.

Die Netzgesellschaft Düsseldorf (NGD) plant den Rollout intelligenter Messsysteme anteilig − einerseits für den Pflicht-Rollout, andererseits für eigentlich nicht planbare kundeninitiierte Fälle. „Dabei nutzt die NGD die Phase des agilen Rollouts bis 2025, um die Prozesse bei Kundengruppen mit einem Verbrauch zwischen 6.000 und 100.000 kWh pro Jahr zu erproben“, so eine Sprecherin zu E&M. Auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen könne man den Bedarf für solche kundeninitiierten Einbaufälle an sich prognostizieren. Regulatorische beziehungsweise gesetzliche Änderungen könnten aber zu einer erhöhten Nachfrage führen, so die Sprecherin. Man gehe davon aus, dass zukünftig „ein fester Bestandteil des Rollouts von intelligenten Messsystemen“ auch auf die Nutzung von dynamischen Tarifen durch die Anschlussnutzer zurückzuführen sein werde.

„Über unseren Pflicht-Rollout hinausgehend montieren wir stets auch intelligente Messsysteme auf Wunsch von Kunden und Stromvertrieben“, berichtet Eric Kallmeyer, Geschäftsbereichsleiter Metering bei Stromnetz Hamburg und betont das Ziel, einen „bedarfsgerechten Einsatz der neuen Zählertechnologie“ sicherzustellen.

Um die Planung zu erleichtern, wird in immer mehr Kommunen über einen Voll-Rollout diskutiert. „Aus Sicht der NGD als grundzuständigem Messstellenbetreiber ist die Entwicklung zur einfachen, drahtlosen Anbindung aller Zähler in einem Anschlussobjekt eine technische Mindestvoraussetzung des Full-Rollout-Szenarios“, heißt es vonseiten der Düsseldorfer Netzgesellschaft. Diese Anbindung sei momentan allerdings technologisch noch nicht umsetzbar.

„Aus unserer Sicht ist ein Voll-Rollout wirtschaftlich nicht sinnvoll“, sagt Eric Kallmeyer. Ursächlich hierfür seien die aktuellen Vorgaben des Messstellenbetriebsgesetzes zu verpflichtend umzusetzenden „Standard- und Zusatzleistungen“ und die damit verbundenen Preisobergrenzen. Auch die Sprecherin der NGD gab zu bedenken, dass der Rollout im Rahmen der Preisobergrenzen umsetzbar sein muss. Sofern die grundzuständigen Messstellenbetreiber aber in der Lage seien, mit den Preisobergrenzen und effizienten Prozessen den Voll-Rollout zu refinanzieren, sei dieser sicherlich auch im Interesse aller Anschlussnutzer. Daher werde die NGD künftig auch ein Voll-Rollout-Szenario prüfen.
 


 

Mittwoch, 18.10.2023, 09:05 Uhr
Fritz Wilhelm
Energie & Management > Aus Der Zeitung - Nicht nur zeitvariabel
Quelle: E&M
Aus Der Zeitung
Nicht nur zeitvariabel
Spätestens ab dem 1. Januar 2025 müssen Stromversorger einen dynamischen Tarif in ihrem Angebot haben. Das betrifft auch den Smart Meter Rollout.
Die Zahl der Stadtwerke, die aktuell einen entsprechenden Tarif anbieten, ist sehr überschaubar. Einige bewerben ihn auf ihrer Internetseite, einige sprechen darüber, einige lieber nicht. Man kann spekulieren, ob es daran liegt, dass sie noch keine Nachfrage nach dem Produkt registrieren oder einfach noch kein massentaugliches Produkt haben.

Es sei auch nicht zu beobachten, dass sich die Versorger nun unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes zum Neustart der Digitalisierung in die Vorbereitungen stürzen, sagt Anna Kohlmann. „Die Unternehmen haben ein sehr turbulentes Jahr 2022 hinter sich und immer noch erhebliche Herausforderungen zu meistern“, so die Leiterin des Kompetenzteams Digitale Lösungen bei der Beratungsgesellschaft BET in Aachen. Die Auswirkungen der Gaskrise, die Umsetzung der Energiepreisbremsen, die Masse der Kundenanfragen zur Preisentwicklung, der Run auf die Photovoltaik und der Beratungsbedarf beim Thema Wärme seien nach wie vor Themen, die als drängender empfunden werden und einen Großteil der personellen Ressourcen binden.

Trotzdem, mahnt Kohlmann, dürfe man die Einführung eines dynamischen Tarifs nicht aus den Augen verlieren. Nach ihrer Einschätzung sind die knapp eineinhalb Jahre bis zum Stichtag kein üppiges Zeitpolster. Die Zusammenführung von 15-minütlichen oder stündlichen Verbrauchs- und Börsenpreisdaten und nicht zuletzt die monatliche Abrechnung der Tarife lasse sich bisher nicht mit Standardabrechnungssystemen bewerkstelligen. Die dafür erforderliche Kompatibilität der unterschiedlichen Komponenten sei längst noch nicht gegeben. Gerade für die Startphase mit nur wenigen Kunden könnten externe Plattformen und Dienstleister für die Visualisierung und Abrechnung von dynamischen Tarifen eine wichtige Rolle spielen.

Und wer sich Gedanken über die Einführung dynamischer Tarife macht, kommt sehr schnell auf eine Fülle von Fragen, welche die Dimension des Projekts deutlich machen und zeigen, wie dieses sich über mehrere Marktrollen erstreckt.
Ganz zentral ist dabei die Frage nach dem Rollout der intelligenten Messsysteme. Soll man erst dann dynamische Tarife einführen und bewerben, wenn schon großflächig intelligente Messsysteme ausgerollt sind? Oder soll man sehr frühzeitig versuchen, Interesse für dynamische Tarife zu wecken und Erfahrung mit dem Produkt zu sammeln, auch wenn es möglicherweise für die grundzuständigen Messstellenbetreiber große Herausforderungen bei der Rollout-Planung mit sich bringt? Wie kann man mit den grundzuständigen oder wettbewerblichen Messstellenbetreibern gemeinsam dynamische Tarife und einen effizienten Smart Meter Rollout vorantreiben?

Keine Frage ist mehr, dass mit der Zeit die Zahl der Pflichteinbaufälle mit der steigenden Menge an Wärmepumpen, Wallboxen und PV-Anlagen in den Haushalten zunehmen wird. Dann haben die Kunden auch nennenswerte Lasten, die verschoben und optimiert werden können, und nicht nur die Waschmaschine und den Trockner. Und sie haben Lasten, die nach dem Energiewirtschaftsgesetz ohnehin steuerbar sein müssen.

Aus Sicht von Anna Kohlmann bestimmt das Potenzial der Lastverschiebung ganz entscheidend die Attraktivität eines dynamischen Tarifs. Eine wirkliche Erfolgsgeschichte werde erst bei einer automatisierten Lastverschiebung daraus. „Man kann nicht vom Kunden verlangen, dass er sein Fahrzeug im stündlichen Wechsel der Preise manuell an die Wallbox hängt und wieder abstöpselt“, gibt sie zu bedenken. Deshalb sei auch das intelligente Messsystem mit seiner CLS-Steuerfunktion so wichtig. Schließlich sei das Ziel eines solchen Tarifs, das Verbrauchsverhalten im Hinblick auf die Netzstabilität zu flexibilisieren und auch finanziell davon zu profitieren.

„Wenn dynamische Tarife die Gleichzeitigkeit des Verbrauchs maßgeblich verändern und dadurch neue Engpasssituationen herbeiführen, ist am Ende nichts gewonnen“, so Kohlmann. Die Optimierung des Energiesystems, bei dem marktbasierte Preissignale, aktuelle Verbrauchsdaten, variable Netzentgelte für Anlagen nach § 14a EnWG sowie Informationen über die aktuelle technische Verfügbarkeit von Flexibilitätsoptionen zusammenwirken, müsse das Ziel sein. Lösungen, die ausschließlich die Abrechenbarkeit dynamischer Tarife auch ohne Verwendung eines intelligenten Messsystems im Fokus haben, können nach Kohlmanns Ansicht zwar den Einstieg ermöglichen.

„Wenn am Ende der Nutzen ausschließlich durch eine manuelle Lastverschiebung entsteht, wird das für den Kunden wenig attraktiv sein. Durch eine Erweiterung um ein Energiemanagementsystem zur Optimierung seiner Last und seines Verbrauchs profitiert der Prosumer weitaus mehr von dynamischen Tarifen“, so die Beraterin. Deshalb führe letztendlich kein Weg am Einsatz der intelligenten Messsysteme mit CLS-Komponenten vorbei. 

Die Stadtwerke Villingen-Schwenningen werden einen „richtigen“ dynamischen Tarif anbieten, versichert Gregor Gülpen − einen Tarif, wie ihn sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck immer vorgestellt hat beim Versuch, den Bürgerinnen und Bürgern die Digitalisierung der Energiewende schmackhaft zu machen. Die Vorbereitungen dafür sind dem Geschäftsführer des südbadischen Versorgers zufolge im Gang.
 

Dynamischer Tarif für alle

Die rechtliche Grundlage ist das Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende, das am 27. Mai 2023 verabschiedet wurde und den § 41a des Energiewirtschaftsgesetzes geändert hat. Demnach müssen ab dem 1. Januar 2025 nicht nur wie bisher die Großen der Branche mit mehr als 100.000 Endkunden, sondern alle Stromlieferanten einen dynamischen Tarif anbieten. Dessen Preis muss sich nach den täglichen Spotpreisen an der Börse richten. Alle Letztverbraucher, die über ein intelligentes Messsystem im Sinne des Messstellenbetriebsgesetzes verfügen, müssen in diesen Genuss kommen.
 


Die Umsetzung hängt aber auch in der 88.000-Einwohner-Stadt am östlichen Rand des Schwarzwalds wie überall eng mit dem Smart Meter Rollout zusammen. Daher werde das Thema eher ein „Langläufer“ sein, wie es Gülpen formuliert. Deshalb haben die Verantwortlichen in Villingen-Schwenningen überlegt, ob sie ihren Stromkunden nicht auf der Kurzstrecke eine dynamische Lösung anbieten können. Herausgekommen ist dabei ein Tarif, der das arithmetische Mittel des börslichen Spotpreises eines Monats als Preis für den Folgemonat heranzieht.

Die Befürchtung, dass den Kunden die Granularität zu gering ist und sie deshalb zu Anbietern wie Tibber abwandern könnten, hat der Stadtwerkechef nicht und sieht sich von der aktuellen Entwicklung bestätigt. „Bei unseren Kunden hat das Produkt eine sehr gute Resonanz gefunden“, sagt Gülpen und spricht von einer „Erfolgsgeschichte“. In der Vertrauensbasis, auf die sich die Stadtwerke vor Ort stützen können, und in der Einfachheit des Produkts sieht er die Stärken. Dass sich Kunden ständig, stündlich oder täglich mit dem Börsenpreis beschäftigen wollen, glaubt er dagegen nicht. Dennoch hält er auch die Erfolgschancen von Produkten ohne automatisierte Lastverlagerung für hoch.

Knapp 2.000 Kunden haben sich für den monatsdynamischen Tarif entschieden − 30 Prozent davon seien Neukunden. Diese hätten nun die Möglichkeit, zumindest in begrenztem Umfang an Preisschwankungen zu partizipieren, ohne von intelligenten Messsystemen abhängig zu sein, beziehungsweise auf deren Rollout warten zu müssen − ob sie nun unter den Pflichteinbau fallen oder nicht.

„Stand heute gehen wir bis 2030 von 5.000 Pflichteinbaufällen pro Jahr aus“, so Gülpen. Diese Zahl werde sich wahrscheinlich mit zunehmender Elektrifizierung des Verkehrs und des Wärmesektors noch etwas erhöhen. Das mache die Rollout-Planung zu einer schwierigen Aufgabe, die aber wie so viele andere schwierige Aufgaben von den Energieversorgern und Netzbetreibern gelöst werde.

Ob sich viele Kunden der Stadtwerke Wuppertal mit stündlich wechselnden Preisen, deren Ursachen und der Anpassung des eigenen Verbrauchs beschäftigen werden, wird sich noch zeigen. Bastian Dette und seine Kollegen schaffen jedenfalls gerade die Voraussetzungen dafür. In einem Pilotprojekt, das auf 50 Haushalte angelegt ist, testen sie einen dynamischen Tarif mit zahlreichen Spezifikationen. Über ein Dashboard können die Kunden in die Vergangenheit blicken und feststellen, in welcher Stunde bei welchem Verbrauch der Vertragspreis wie hoch war.

Neben aktuellen und prognostizierten Wetterdaten, die einen Rückschluss auf die Einspeisung der Erneuerbaren zulassen, gibt das Armaturenbrett auch den Blick auf die Preisprognosen für die jeweils kommenden fünf Tage frei. Zusätzlich listet eine „Energiepreis-Uhr“ die Brutto-Vertragspreise der nächsten zwölf Stunden auf. Eine Farbskala soll dabei die Orientierung erleichtern, welche Zeiträume sich für die häuslichen Verbrauchsspitzen anbieten.

15 Teilnehmer sind bislang voll ausgestattet

Insgesamt 15 der aktuell 45 registrierten Teilnehmer sind bislang voll ausgestattet und verfügen über ein intelligentes Messsystem. Die Geräte sind obligatorisch. „Weil wir viertelstündliche Verbrauchswerte für das Matching benötigen. Deshalb ist bei allen der Tarifanwendungsfall 7 aktiviert“, erklärt Dette. Einfach ein Standardlastprofil zu hinterlegen, sei kein Thema gewesen. „Wir wollen es gleich richtig machen und einen ‚ehrlichen‘ Tarif anbieten“, so der Projektleiter.

Die Kunden müssen allerdings den Aufwand und Nutzen einer Lastverschiebung noch selbst abwägen und dann gegebenenfalls den An- oder Aus-Knopf betätigen. „Wir gehen jedoch jetzt die Frage an, wie man hier automatisieren kann“, kündigt Dette an. Kleinvieh mache zwar auch Mist, sagt er. Aber natürlich sei das Flexibilitätspotenzial bei Ladestationen und Wärmepumpen perspektivisch am größten. Diese Anlagen, die ohnehin nach gesetzlicher Vorschrift steuerbar sein müssen, haben auch die für eine Automatisierung notwendigen Schnittstellen, die bei Haushaltsgeräten längst noch nicht üblich sind.

Als nächster Schritt soll die Netzseite integriert werden. „Unabhängig von erwartbaren Änderungen in der Regulatorik testen wir die Integration einer möglichen ‚Netzampel‘, sodass auch die systemische Seite berücksichtigt werden kann“, erläutert Dette. Am Ende könne man dann auch die Netzdienlichkeit in den dynamischen Tarif einfließen lassen. Für diese gar nicht mehr allzu ferne Zukunft skizziert er folgende mögliche Szenarien: entweder zeitvariabel entsprechend den Börsenpreisen, lastvariabel auf Grundlage von Netzzuständen oder die Drosselung der steuerbaren Verbrauchseinrichtungen, wie es § 14a EnWG und die dazugehörenden Festlegungsentwürfe der Bundesnetzagentur vorsehen.

Mit dem bisherigen Verlauf der Pilotphase sind die Verantwortlichen in Wuppertal laut Dette sehr zufrieden. Von den Teilnehmern vermutet er dasselbe, nicht zuletzt, weil sie auch von einer „Fair-Preis-Linie“ profitieren. Diese begrenzt den Vertragspreis auch bei einer Preisexplosion an der Börse auf 0,50 Euro/kWh. Zum Cap nach oben gibt es allerdings auch einen Floor nach unten. Hier verläuft die Linie bei 0,15 Euro/kWh. Die Werte könnten sich durchaus von Jahr zu Jahr etwas verschieben, räumt Dette ein. Allerdings sei immer das Bestreben des Stadtwerks, seiner besonderen Verantwortung gegenüber den Kunden als lokaler Versorger nachzukommen und exorbitante Preissprünge zu einem gewissen Grad abzufedern. In den kommenden Wochen wollen die Stadtwerke das Pilotprojekt auswerten und dann, gegebenenfalls noch mit Anpassungen, den Tarif 2024 für alle Kunden öffnen. 
 

Die Krux mit dem Rollout

Grundsätzlich fällt dem jeweiligen Verteilnetzbetreiber die Rolle des grundzuständigen Messstellenbetreibers in seinem Netzgebiet zu. Damit ist er für den Rollout der intelligenten Messsysteme verantwortlich. Das bedeutet, dass er es ist, der auch die künftigen Anwendungen, den Zuwachs an Pflichteinbaufällen und ab 2025 gesetzlich verpflichtend „freiwillige Einbaufälle“ auf Kundenwunsch − auch wenn die Mindestverbrauchsschwelle für den Pflicht-Rollout nicht erreicht ist − in seinem Rollout-Plan berücksichtigen muss.

Die Netzgesellschaft Düsseldorf (NGD) plant den Rollout intelligenter Messsysteme anteilig − einerseits für den Pflicht-Rollout, andererseits für eigentlich nicht planbare kundeninitiierte Fälle. „Dabei nutzt die NGD die Phase des agilen Rollouts bis 2025, um die Prozesse bei Kundengruppen mit einem Verbrauch zwischen 6.000 und 100.000 kWh pro Jahr zu erproben“, so eine Sprecherin zu E&M. Auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen könne man den Bedarf für solche kundeninitiierten Einbaufälle an sich prognostizieren. Regulatorische beziehungsweise gesetzliche Änderungen könnten aber zu einer erhöhten Nachfrage führen, so die Sprecherin. Man gehe davon aus, dass zukünftig „ein fester Bestandteil des Rollouts von intelligenten Messsystemen“ auch auf die Nutzung von dynamischen Tarifen durch die Anschlussnutzer zurückzuführen sein werde.

„Über unseren Pflicht-Rollout hinausgehend montieren wir stets auch intelligente Messsysteme auf Wunsch von Kunden und Stromvertrieben“, berichtet Eric Kallmeyer, Geschäftsbereichsleiter Metering bei Stromnetz Hamburg und betont das Ziel, einen „bedarfsgerechten Einsatz der neuen Zählertechnologie“ sicherzustellen.

Um die Planung zu erleichtern, wird in immer mehr Kommunen über einen Voll-Rollout diskutiert. „Aus Sicht der NGD als grundzuständigem Messstellenbetreiber ist die Entwicklung zur einfachen, drahtlosen Anbindung aller Zähler in einem Anschlussobjekt eine technische Mindestvoraussetzung des Full-Rollout-Szenarios“, heißt es vonseiten der Düsseldorfer Netzgesellschaft. Diese Anbindung sei momentan allerdings technologisch noch nicht umsetzbar.

„Aus unserer Sicht ist ein Voll-Rollout wirtschaftlich nicht sinnvoll“, sagt Eric Kallmeyer. Ursächlich hierfür seien die aktuellen Vorgaben des Messstellenbetriebsgesetzes zu verpflichtend umzusetzenden „Standard- und Zusatzleistungen“ und die damit verbundenen Preisobergrenzen. Auch die Sprecherin der NGD gab zu bedenken, dass der Rollout im Rahmen der Preisobergrenzen umsetzbar sein muss. Sofern die grundzuständigen Messstellenbetreiber aber in der Lage seien, mit den Preisobergrenzen und effizienten Prozessen den Voll-Rollout zu refinanzieren, sei dieser sicherlich auch im Interesse aller Anschlussnutzer. Daher werde die NGD künftig auch ein Voll-Rollout-Szenario prüfen.
 


 

Mittwoch, 18.10.2023, 09:05 Uhr
Fritz Wilhelm

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