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Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung

"Ein innovativer Ansatzpunkt ist das Netzbooster-Konzept"

Die Studie „Energy System 2050“ beschäftigt sich mit der zukünftigen klimaneutralen Energieversorgung in Europa. Jonas Lotze, Ingenieur bei Transnet BW, kennt alle Details.

Zur Person:

Jonas Lotze, 35, ist Ingenieur und Projektleiter beim Ãœbertragungsnetzbetreiber Transnet BW. In seiner siebenjährigen Tätigkeit in der Abteilung Strategische Netzplanung hat er verschiedene Projekte und interdisziplinäre Teams zur Entwicklung des zukünftigen Energiesystems und Stromnetzes koordiniert. Er verantwortete auch die Studie „Energy System 2050 − towards a decarbonised Europe“.
 

E&M: Herr Lotze, Sie werfen mit der Studie ‚Energy System 2050‘ den Blick sehr weit in die Zukunft. Da gibt es doch jede Menge Unsicherheiten, oder?

Lotze: Beim Klimaschutz gehen die europäischen Ziele bis in das Jahr 2050. Aktuell sind wir dabei, unser Energiesystem grundlegend umzubauen, und dieser Umbau ist aufwendig und braucht Zeit. Um zu wissen, ob er heute und in den nächsten Jahren tatsächlich zur Erreichung der Klimaneutralität führt, müssen wir trotz der Unsicherheiten einen Blick bis an das Ende der Energiewende wagen. 

E&M: Wie muss man sich das vorstellen?

Lotze: Durch vergleichende Analysen unterschiedlicher Pfade, die zu einem klimaneutralen Energiesystem führen, können wir identifizieren, welche Bandbreite an Maßnahmen notwendig wird. Außerdem hatte die Studie einen Beirat mit Fachleuten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Diese breite Expertise hat geholfen, die Unsicherheiten einzugrenzen.

E&M: Wie unterscheidet sich Ihre Ausarbeitung vom Netzentwicklungsplan?

Lotze: Wir haben einen anderen Fokus, haben das Ganze auf die europäische Ebene ausgeweitet. Der Netzentwicklungsplan sieht eher die nationale Ebene.

E&M: Es könnten doch im Laufe der Jahre ganz andere Probleme oder auch Problemlösungen auftauchen, die wir heute noch gar nicht in Betracht ziehen oder in Betracht ziehen können.

Lotze: Absolut. In den nächsten 25 Jahren sind sicher noch einige andere Probleme oder Problemlösungen denkbar und auch wahrscheinlich. Deswegen hören wir jetzt nicht auf mit der Planung, sondern schärfen das Bild unserer klimaneutralen Zukunft auf nationaler, aber auch auf europäischer Ebene kontinuierlich weiter. Die Studie kann man also als Startpunkt für Diskussionen und Weiterentwicklungen verstehen.

E&M: Bis 2050 sollten wir eine EU-weite Kraftwerksleistung von 3.500 bis 4.000 Gigawatt haben. Ist das überhaupt machbar, wie viel haben wir heute?

Lotze: In der EU27 haben wir heute ungefähr 1.000 Gigawatt Stromerzeugungskapazität, darunter ist aber auch noch ein großer Anteil an Kohle-, Gas- und Nuklearkraftwerken. Diese werden wir in Europa nach und nach durch Erneuerbare ersetzen. Um die für die Energiewende notwendige Erzeugungskapazität bis 2050 aufzubauen, müssen wir unsere Anstrengungen jedoch erhöhen. Der Ausbau von Wind- und Photovoltaikanlagen sowie der für die Integration der klimaneutralen Energieträger notwendige Netzausbau muss hierfür beschleunigt werden. Aus technischer Sicht ist das machbar. Dafür brauchen wir jedoch die richtigen politischen Weichenstellungen und eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz.
 
Jonas Lotze
Quelle: Transnet BW


E&M: Die 3.500 bis 4.000 Gigawatt kommen dann komplett aus erneuerbaren Energien? Gibt es 2050 gar keine konventionellen Kraftwerke mehr oder bezieht das die Möglichkeit mit ein, dass einige weiterlaufen könnten und das CO2 dann per CCS beseitigt wird?

Lotze: Ein Großteil der Kapazität der EU wird aus Wind und Sonne kommen. Daneben weist die Studie für 2050 noch etwa 500 Gigawatt regelbare Gaskraftwerke, Wasserspeicherkraftwerke, Großbatteriespeicher oder in bestimmten Ländern wie Frankreich auch Kernkraftwerke aus. Auch in einem klimaneutralen Energiesystem im Jahr 2050 brauchen wir regelbare Erzeugungsanlagen, um beispielsweise Situationen ohne Wind und Sonne zu überstehen. CCS, also die Speicherung von CO2 im Untergrund, wird in unserem Modell nur in bestimmten Industrieprozessen genutzt.

E&M: Zur Netzstabilisierung werden also weiter Gaskraftwerke genutzt. Laufen die dann alle mit Wasserstoff?

Lotze: Es gibt mehrere Möglichkeiten, Gaskraftwerke in Zukunft zu betreiben. Neben der Nutzung von Wasserstoff können auch synthetische klimaneutrale Gase eingesetzt werden. Welcher Energieträger sich hier durchsetzen wird, hängt am Ende von den wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen der Kraftwerke, aber auch von der zur Verfügung stehenden Infrastruktur ab. Ich denke, das wird sich in den kommenden Jahren zeigen. 

E&M: Wie sieht in Zukunft die Wärmeversorgung aus? Heizen wir mit Wasserstoff oder ist Strom das Maß aller Dinge?

Lotze: Für ein effizientes klimaneutrales Energiesystem brauchen wir beides, Strom und Wasserstoff. Auf den richtigen Mix kommt es hier an. In unserer Studie hat sich Strom tatsächlich als wichtigste Quelle für die Wärmeerzeugung in Haushalten durchgesetzt mit rund 75 Prozent − der mit Abstand größte Anteil dabei sind Wärmepumpen. Die restlichen 25 Prozent sind Heizungen, die mit Biomasse und Gasen, unter anderem auch Wasserstoff, betrieben werden. Strom ist hier aber die billigste Lösung.

E&M: Und in der Industrie?

Lotze: Bei der Industrie hingegen gibt es − anders als bei den Haushalten − einen deutlich größeren Gasanteil. Das liegt daran, dass für manche Prozesse extrem hohe Temperaturen notwendig sind, die mit Strom nicht erreicht werden können. Hier wird heute schon Wasserstoff verwendet und der Bedarf wird in Zukunft deutlich steigen. Grüner Wasserstoff wird so zum Schlüssel für die Dekarbonisierung des Industriesektors.

E&M: Beim Wasserstoff gibt es gerade noch Unsicherheiten. Wie viel können wir selbst erzeugen, wer werden die wichtigsten Zulieferer sein?

Lotze: Bei den Wasserstoffimporten wird Skandinavien und hier insbesondere Dänemark wichtig für Deutschland werden. Das liegt daran, dass diese Region ein großes Potenzial bei der Nutzung von Windstrom und Elektrolyse hat. Wir haben in der Studie zwei Szenarien dargestellt: Im Szenario mit einem globalen Wasserstoffmarkt und Pipelines, die nach Europa führen, wird ein hoher Import von verhältnismäßig günstigem Wasserstoff angenommen. Im Szenario eines resilienten Europas gibt es diese Pipelines nicht. Im Ergebnis dieses Szenarios braucht Deutschland eine eigene Elektrolysekapazität von 60 Gigawatt.

E&M: Auf welchen Wegen kann der Wasserstoff sinnvollerweise zu uns gelangen?

Lotze: Betrachtet man den Transport und lässt dabei die Erzeugungskosten außer Acht, dann ist ein Pipelinetransport deutlich günstiger als der Transport per verflüssigtem Wasserstoff und Schiff. Ich denke, es ist sinnvoll, zuerst die europäischen Kapazitäten auszuschöpfen und dabei für Deutschland insbesondere Kapazitäten aus Nordeuropa zu erwägen. Für den Bedarf, der dann noch nicht gedeckt ist, sollte der Schiffstransport in Betracht gezogen werden. 

E&M: Breiten Raum nimmt in der Untersuchung auch der europäische Energieaustausch ein. Wie wird sich die Rolle Deutschlands in diesem Gefüge beim Strom verändern?

Lotze: Deutschland ist heute und vermutlich auch in Zukunft größter Stromverbraucher Europas und wird künftig deutlich abhängiger von Stromimporten als heute. Wir haben in unserem Land nicht die verfügbaren Flächenpotenziale, um uns vollständig selbst zu versorgen. Positiv ist aber, dass wir deutlich unabhängiger von Öl und Gas sein werden als heute. Die Studie zeigt, dass wir durch die Umstellung des Energiesystems auf Erneuerbare über 70 Prozent weniger Bedarf an Öl und Gas haben werden.

E&M: Also werden wir immer mehr vom Stromimport abhängig?

Lotze: Zunächst ja, aber das wird mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien ebenfalls wieder zurückgehen.

E&M: Wer werden die wichtigsten Handelspartner sein?

Lotze: In Bezug auf Strom werden ganz klar unsere direkten Nachbarn unsere wichtigsten Handelspartner sein. In Situationen mit viel Wind handeln wir mit Dänemark, Polen und den Beneluxstaaten. In sonnenreichen Situationen importieren wir etwa aus Frankreich und in Situationen, in denen beides fehlt, aus den Wasserspeicherkraftwerken in Österreich und der Schweiz.

E&M: Und beim Wasserstoff?

Lotze: Bei der Wasserstoffversorgung hängt es stark von den politischen Entscheidungen ab. Wird es einen Pipelinehandel mit Ländern außerhalb von Europa geben, zum Beispiel Nordafrika, sehen wir hier wichtige Handelspartner. Wollen wir in Europa im Jahr 2050 unabhängiger und eine resilientere Energieversorgung haben, dann wären für Wasserstofflieferungen die skandinavischen Länder, aber auch Polen und die Niederlande wichtige Handelspartner.

E&M: Dänemark war zuletzt immer wieder als Partner beim Wasserstoff im Fokus, vom Bau einer Pipeline nach Deutschland ist die Rede.

Lotze: Dänemark ist auch ein interessanter Partner beim Strom. Das Land hat großes Potenzial für Windparks, der Weg nach Deutschland ist auch nicht weit. Das gilt für Frankreich genauso, aber auch für Polen, wo es − schon rein von der Fläche − viel Platz für Erneuerbare-Anlagen gibt. Interessant ist auch der Austausch mit Norwegen, das Wasserkraft zur Verfügung stellen kann, wenn Sonne und Wind hierzulande schwächeln.

E&M: Der Ausbau der Stromnetze behindert die Energiewende massiv. Vor allem die Nord-Süd-Engpässe gelten als Riesenproblem. Was muss auf politischer Ebene passieren?

Lotze: Die Integration klimaneutraler Energieträger in unser Energiesystem funktioniert nur mit einem Ausbau der Stromnetze. Auch für den zunehmenden grenzüberschreitenden Stromhandel und die Versorgung der steigenden Stromnachfrage ist der Um- und Ausbau notwendig. Leider hatte die Energiewende bisher zwei Geschwindigkeiten: Der Ausbau des Stromnetzes konnte mit dem Tempo des Erneuerbaren-Ausbaus nicht mithalten. Das soll sich jetzt ändern. Die Politik ist dabei, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Genau das brauchen wir für ein Gelingen der Energiewende.

E&M: Was ist auf technischer Ebene beim Netzausbau wichtig, welche Möglichkeiten gibt es, um Verbesserungen zu erreichen, was wird heute schon getan?

Lotze: Bevor wir in der Netzplanung eine Verstärkung oder einen Ausbau des Stromnetzes ins Auge fassen, versuchen wir immer zuerst den aktuellen Netzbetrieb zu optimieren. Zum Beispiel durch eine höhere Belastung der Leitungen bei kühleren Außentemperaturen. Genau das machen wir heute bereits. Technische Grundlage ist hier der sogenannte Witterungsabhängige Freileitungsbetrieb, kurz WAFB. Für die echtzeitfähige Erfassung der Belastbarkeit von Freileitungen haben wir bereits einen Großteil unseres Netzes mit Wetterstationen und Sensoren ausgestattet.

E&M: Was kann noch kommen?

Lotze: In der Netzplanung haben wir hier bereits viele weitere Konzepte für die Netzauslastungsoptimierung entwickelt. Unter anderem können Phasenschiebertransformatoren (PST) und Konverterstationen von Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ) netzengpassmildernd eingesetzt werden. Auch an einer Erhöhung der zulässigen Stromtragfähigkeit je Stromkreis wird gearbeitet mit dem Ziel, in Zukunft bis zu 4.000 statt wie bisher höchstens 3.600 Ampere zu übertragen. Ein weiterer und innovativer Ansatzpunkt ist das Netzbooster-Konzept.

E&M: Wie funktioniert das?

Lotze: Dabei entlasten große Batteriespeicher das Stromnetz im Fehlerfall in Sekundenschnelle und ermöglichen so eine höhere Auslastung der Stromkreise im Normalbetrieb. 2026 wollen wir unsere Pilotanlage des Netzboosters in Kupferzell in Betrieb nehmen.

E&M: Wird es nicht immer komplizierter, die Netze mit all den neuen technischen Möglichkeiten zu betreiben?

Lotze: Um ein effizientes und bedarfsgerechtes Stromnetz aufzubauen, brauchen wir diese neuen technischen Möglichkeiten. Das Energiesystem wird immer höher ausgelastet, weniger planbar und deutlich komplexer. Dadurch wird mit der Energiewende auch der Netzbetrieb anspruchsvoller. Die Zeiten, in denen neben jedem Verbrauchszentrum ein großes Kraftwerk stand, sind vorbei. Gemeinsam mit den anderen deutschen Übertragungsnetzbetreibern arbeiten wir bereits an der innovativen Systemführung der Zukunft.

E&M: Die Netze müssen ja auch für den zunehmenden europäischen Stromaustausch ausgelegt werden. Was muss sich hier verändern?

Lotze: Der grenzüberschreitende Energiehandel wird immer wichtiger. Unsere Studie hat gezeigt, dass nahezu unabhängig vom Szenario ein massiver Ausbau der Infrastruktur notwendig ist: Die EU27 wird eine 2,8-fache Stromhandelskapazität im Vergleich zu heute benötigen. Deutschland profitiert vom wachsenden EU-Binnenmarkt und der zentralen Lage in Europa. Für uns ist es also wichtig und vorteilhaft, die Grenzkuppelstellen im Übertragungsnetz auszubauen. Großen Ausbaubedarf gibt es etwa auch zwischen Frankreich und Spanien, wo viel Photovoltaikstrom unterwegs ist.

E&M: Welche Länder pflegen in Zukunft einen intensiveren Stromaustausch miteinander?

Lotze: Für Frankreich werden zum Beispiel Spanien, Großbritannien und Italien wichtige Handelspartner sein. Deutschland wird viel Strom mit allen seinen Nachbarn austauschen. Gut funktioniert es heute schon etwa mit Österreich und der Schweiz.

E&M: Bitte nennen Sie drei Punkte, die darüber entscheiden, ob die EU bis 2050 klimaneutral ist, oder nicht.

Lotze: Zum einen denke ich, dass die Energiewende nur effizient umgesetzt werden kann, wenn sie auf europäischer Ebene geplant und durchgeführt wird. Eine gemeinsame Beschleunigung des Ausbaus von Windkraft und Photovoltaik ist hier zwingend erforderlich.
Zweitens spielt der Stromsektor beim Erreichen der Klimaziele eine wesentliche Rolle. Strom muss hierbei neu gedacht werden. Um die Erneuerbaren effizient in das System zu integrieren, brauchen wir eine zeitliche Flexibilität durch Speicher und Lastmanagement in allen angeschlossenen Sektoren. Dabei ist es auch wichtig, dass wir als Verbraucher umdenken und unseren Beitrag leisten.
Drittens ist der zügige Um- und Ausbau der Strom- und Gasinfrastruktur zwingend erforderlich. Dafür müssen politische Weichen gestellt werden, aber auch die gesellschaftliche Akzeptanz muss da sein.

E&M: Wie groß ist Ihre Zuversicht, dass wir es schaffen?

Lotze: In Deutschland und auch Europa nimmt die Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft immer weiter Fahrt auf. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichen. Es bleibt aber noch viel zu tun. Wir bei Transnet BW setzen alles daran, unseren Beitrag und unsere Expertise einzusetzen. Mit der Studie haben wir einen machbaren Weg in die klimaneutrale Zukunft von Europa dargestellt. 

Studie „Energy System 2050“

Die von Transnet BW erstellte Studie „Energy System 2050 − towards a decarbonised Europe“ beleuchtet die Zukunft des europäischen Energiesystems auf Grundlage einer im Jahr 2050 zu erreichenden Klimaneutralität. Die Untersuchung beantwortet die Frage, wie Europa unabhängig von Energieimporten werden kann, sie befasst sich mit der zukünftigen Rolle der Sektorenkopplung in Europa und geht auf die Investitionen für die Energiewende ein. Die Studie ist in englischer Sprache verfasst, eine deutsche Zusammenfassung sowie weitere Informationen können auf der Internetseite www.energysystem2050.net heruntergeladen werden.
 
 
Visualisierung eines innovativen Netzausbauprojekts: Der in Kupferzell geplante Netzbooster soll eine bessere Auslastung der Leitungen ermöglichen.
Quelle: Transnet BW
 
So soll die Konverteranlage für das Südlink-Projekt in Leingarten bei Heilbronn aussehen.
Quelle: Transnet BW


 

Montag, 15.05.2023, 09:03 Uhr
Günter Drewnitzky
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung -
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung
"Ein innovativer Ansatzpunkt ist das Netzbooster-Konzept"
Die Studie „Energy System 2050“ beschäftigt sich mit der zukünftigen klimaneutralen Energieversorgung in Europa. Jonas Lotze, Ingenieur bei Transnet BW, kennt alle Details.

Zur Person:

Jonas Lotze, 35, ist Ingenieur und Projektleiter beim Ãœbertragungsnetzbetreiber Transnet BW. In seiner siebenjährigen Tätigkeit in der Abteilung Strategische Netzplanung hat er verschiedene Projekte und interdisziplinäre Teams zur Entwicklung des zukünftigen Energiesystems und Stromnetzes koordiniert. Er verantwortete auch die Studie „Energy System 2050 − towards a decarbonised Europe“.
 

E&M: Herr Lotze, Sie werfen mit der Studie ‚Energy System 2050‘ den Blick sehr weit in die Zukunft. Da gibt es doch jede Menge Unsicherheiten, oder?

Lotze: Beim Klimaschutz gehen die europäischen Ziele bis in das Jahr 2050. Aktuell sind wir dabei, unser Energiesystem grundlegend umzubauen, und dieser Umbau ist aufwendig und braucht Zeit. Um zu wissen, ob er heute und in den nächsten Jahren tatsächlich zur Erreichung der Klimaneutralität führt, müssen wir trotz der Unsicherheiten einen Blick bis an das Ende der Energiewende wagen. 

E&M: Wie muss man sich das vorstellen?

Lotze: Durch vergleichende Analysen unterschiedlicher Pfade, die zu einem klimaneutralen Energiesystem führen, können wir identifizieren, welche Bandbreite an Maßnahmen notwendig wird. Außerdem hatte die Studie einen Beirat mit Fachleuten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Diese breite Expertise hat geholfen, die Unsicherheiten einzugrenzen.

E&M: Wie unterscheidet sich Ihre Ausarbeitung vom Netzentwicklungsplan?

Lotze: Wir haben einen anderen Fokus, haben das Ganze auf die europäische Ebene ausgeweitet. Der Netzentwicklungsplan sieht eher die nationale Ebene.

E&M: Es könnten doch im Laufe der Jahre ganz andere Probleme oder auch Problemlösungen auftauchen, die wir heute noch gar nicht in Betracht ziehen oder in Betracht ziehen können.

Lotze: Absolut. In den nächsten 25 Jahren sind sicher noch einige andere Probleme oder Problemlösungen denkbar und auch wahrscheinlich. Deswegen hören wir jetzt nicht auf mit der Planung, sondern schärfen das Bild unserer klimaneutralen Zukunft auf nationaler, aber auch auf europäischer Ebene kontinuierlich weiter. Die Studie kann man also als Startpunkt für Diskussionen und Weiterentwicklungen verstehen.

E&M: Bis 2050 sollten wir eine EU-weite Kraftwerksleistung von 3.500 bis 4.000 Gigawatt haben. Ist das überhaupt machbar, wie viel haben wir heute?

Lotze: In der EU27 haben wir heute ungefähr 1.000 Gigawatt Stromerzeugungskapazität, darunter ist aber auch noch ein großer Anteil an Kohle-, Gas- und Nuklearkraftwerken. Diese werden wir in Europa nach und nach durch Erneuerbare ersetzen. Um die für die Energiewende notwendige Erzeugungskapazität bis 2050 aufzubauen, müssen wir unsere Anstrengungen jedoch erhöhen. Der Ausbau von Wind- und Photovoltaikanlagen sowie der für die Integration der klimaneutralen Energieträger notwendige Netzausbau muss hierfür beschleunigt werden. Aus technischer Sicht ist das machbar. Dafür brauchen wir jedoch die richtigen politischen Weichenstellungen und eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz.
 
Jonas Lotze
Quelle: Transnet BW


E&M: Die 3.500 bis 4.000 Gigawatt kommen dann komplett aus erneuerbaren Energien? Gibt es 2050 gar keine konventionellen Kraftwerke mehr oder bezieht das die Möglichkeit mit ein, dass einige weiterlaufen könnten und das CO2 dann per CCS beseitigt wird?

Lotze: Ein Großteil der Kapazität der EU wird aus Wind und Sonne kommen. Daneben weist die Studie für 2050 noch etwa 500 Gigawatt regelbare Gaskraftwerke, Wasserspeicherkraftwerke, Großbatteriespeicher oder in bestimmten Ländern wie Frankreich auch Kernkraftwerke aus. Auch in einem klimaneutralen Energiesystem im Jahr 2050 brauchen wir regelbare Erzeugungsanlagen, um beispielsweise Situationen ohne Wind und Sonne zu überstehen. CCS, also die Speicherung von CO2 im Untergrund, wird in unserem Modell nur in bestimmten Industrieprozessen genutzt.

E&M: Zur Netzstabilisierung werden also weiter Gaskraftwerke genutzt. Laufen die dann alle mit Wasserstoff?

Lotze: Es gibt mehrere Möglichkeiten, Gaskraftwerke in Zukunft zu betreiben. Neben der Nutzung von Wasserstoff können auch synthetische klimaneutrale Gase eingesetzt werden. Welcher Energieträger sich hier durchsetzen wird, hängt am Ende von den wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen der Kraftwerke, aber auch von der zur Verfügung stehenden Infrastruktur ab. Ich denke, das wird sich in den kommenden Jahren zeigen. 

E&M: Wie sieht in Zukunft die Wärmeversorgung aus? Heizen wir mit Wasserstoff oder ist Strom das Maß aller Dinge?

Lotze: Für ein effizientes klimaneutrales Energiesystem brauchen wir beides, Strom und Wasserstoff. Auf den richtigen Mix kommt es hier an. In unserer Studie hat sich Strom tatsächlich als wichtigste Quelle für die Wärmeerzeugung in Haushalten durchgesetzt mit rund 75 Prozent − der mit Abstand größte Anteil dabei sind Wärmepumpen. Die restlichen 25 Prozent sind Heizungen, die mit Biomasse und Gasen, unter anderem auch Wasserstoff, betrieben werden. Strom ist hier aber die billigste Lösung.

E&M: Und in der Industrie?

Lotze: Bei der Industrie hingegen gibt es − anders als bei den Haushalten − einen deutlich größeren Gasanteil. Das liegt daran, dass für manche Prozesse extrem hohe Temperaturen notwendig sind, die mit Strom nicht erreicht werden können. Hier wird heute schon Wasserstoff verwendet und der Bedarf wird in Zukunft deutlich steigen. Grüner Wasserstoff wird so zum Schlüssel für die Dekarbonisierung des Industriesektors.

E&M: Beim Wasserstoff gibt es gerade noch Unsicherheiten. Wie viel können wir selbst erzeugen, wer werden die wichtigsten Zulieferer sein?

Lotze: Bei den Wasserstoffimporten wird Skandinavien und hier insbesondere Dänemark wichtig für Deutschland werden. Das liegt daran, dass diese Region ein großes Potenzial bei der Nutzung von Windstrom und Elektrolyse hat. Wir haben in der Studie zwei Szenarien dargestellt: Im Szenario mit einem globalen Wasserstoffmarkt und Pipelines, die nach Europa führen, wird ein hoher Import von verhältnismäßig günstigem Wasserstoff angenommen. Im Szenario eines resilienten Europas gibt es diese Pipelines nicht. Im Ergebnis dieses Szenarios braucht Deutschland eine eigene Elektrolysekapazität von 60 Gigawatt.

E&M: Auf welchen Wegen kann der Wasserstoff sinnvollerweise zu uns gelangen?

Lotze: Betrachtet man den Transport und lässt dabei die Erzeugungskosten außer Acht, dann ist ein Pipelinetransport deutlich günstiger als der Transport per verflüssigtem Wasserstoff und Schiff. Ich denke, es ist sinnvoll, zuerst die europäischen Kapazitäten auszuschöpfen und dabei für Deutschland insbesondere Kapazitäten aus Nordeuropa zu erwägen. Für den Bedarf, der dann noch nicht gedeckt ist, sollte der Schiffstransport in Betracht gezogen werden. 

E&M: Breiten Raum nimmt in der Untersuchung auch der europäische Energieaustausch ein. Wie wird sich die Rolle Deutschlands in diesem Gefüge beim Strom verändern?

Lotze: Deutschland ist heute und vermutlich auch in Zukunft größter Stromverbraucher Europas und wird künftig deutlich abhängiger von Stromimporten als heute. Wir haben in unserem Land nicht die verfügbaren Flächenpotenziale, um uns vollständig selbst zu versorgen. Positiv ist aber, dass wir deutlich unabhängiger von Öl und Gas sein werden als heute. Die Studie zeigt, dass wir durch die Umstellung des Energiesystems auf Erneuerbare über 70 Prozent weniger Bedarf an Öl und Gas haben werden.

E&M: Also werden wir immer mehr vom Stromimport abhängig?

Lotze: Zunächst ja, aber das wird mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien ebenfalls wieder zurückgehen.

E&M: Wer werden die wichtigsten Handelspartner sein?

Lotze: In Bezug auf Strom werden ganz klar unsere direkten Nachbarn unsere wichtigsten Handelspartner sein. In Situationen mit viel Wind handeln wir mit Dänemark, Polen und den Beneluxstaaten. In sonnenreichen Situationen importieren wir etwa aus Frankreich und in Situationen, in denen beides fehlt, aus den Wasserspeicherkraftwerken in Österreich und der Schweiz.

E&M: Und beim Wasserstoff?

Lotze: Bei der Wasserstoffversorgung hängt es stark von den politischen Entscheidungen ab. Wird es einen Pipelinehandel mit Ländern außerhalb von Europa geben, zum Beispiel Nordafrika, sehen wir hier wichtige Handelspartner. Wollen wir in Europa im Jahr 2050 unabhängiger und eine resilientere Energieversorgung haben, dann wären für Wasserstofflieferungen die skandinavischen Länder, aber auch Polen und die Niederlande wichtige Handelspartner.

E&M: Dänemark war zuletzt immer wieder als Partner beim Wasserstoff im Fokus, vom Bau einer Pipeline nach Deutschland ist die Rede.

Lotze: Dänemark ist auch ein interessanter Partner beim Strom. Das Land hat großes Potenzial für Windparks, der Weg nach Deutschland ist auch nicht weit. Das gilt für Frankreich genauso, aber auch für Polen, wo es − schon rein von der Fläche − viel Platz für Erneuerbare-Anlagen gibt. Interessant ist auch der Austausch mit Norwegen, das Wasserkraft zur Verfügung stellen kann, wenn Sonne und Wind hierzulande schwächeln.

E&M: Der Ausbau der Stromnetze behindert die Energiewende massiv. Vor allem die Nord-Süd-Engpässe gelten als Riesenproblem. Was muss auf politischer Ebene passieren?

Lotze: Die Integration klimaneutraler Energieträger in unser Energiesystem funktioniert nur mit einem Ausbau der Stromnetze. Auch für den zunehmenden grenzüberschreitenden Stromhandel und die Versorgung der steigenden Stromnachfrage ist der Um- und Ausbau notwendig. Leider hatte die Energiewende bisher zwei Geschwindigkeiten: Der Ausbau des Stromnetzes konnte mit dem Tempo des Erneuerbaren-Ausbaus nicht mithalten. Das soll sich jetzt ändern. Die Politik ist dabei, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Genau das brauchen wir für ein Gelingen der Energiewende.

E&M: Was ist auf technischer Ebene beim Netzausbau wichtig, welche Möglichkeiten gibt es, um Verbesserungen zu erreichen, was wird heute schon getan?

Lotze: Bevor wir in der Netzplanung eine Verstärkung oder einen Ausbau des Stromnetzes ins Auge fassen, versuchen wir immer zuerst den aktuellen Netzbetrieb zu optimieren. Zum Beispiel durch eine höhere Belastung der Leitungen bei kühleren Außentemperaturen. Genau das machen wir heute bereits. Technische Grundlage ist hier der sogenannte Witterungsabhängige Freileitungsbetrieb, kurz WAFB. Für die echtzeitfähige Erfassung der Belastbarkeit von Freileitungen haben wir bereits einen Großteil unseres Netzes mit Wetterstationen und Sensoren ausgestattet.

E&M: Was kann noch kommen?

Lotze: In der Netzplanung haben wir hier bereits viele weitere Konzepte für die Netzauslastungsoptimierung entwickelt. Unter anderem können Phasenschiebertransformatoren (PST) und Konverterstationen von Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ) netzengpassmildernd eingesetzt werden. Auch an einer Erhöhung der zulässigen Stromtragfähigkeit je Stromkreis wird gearbeitet mit dem Ziel, in Zukunft bis zu 4.000 statt wie bisher höchstens 3.600 Ampere zu übertragen. Ein weiterer und innovativer Ansatzpunkt ist das Netzbooster-Konzept.

E&M: Wie funktioniert das?

Lotze: Dabei entlasten große Batteriespeicher das Stromnetz im Fehlerfall in Sekundenschnelle und ermöglichen so eine höhere Auslastung der Stromkreise im Normalbetrieb. 2026 wollen wir unsere Pilotanlage des Netzboosters in Kupferzell in Betrieb nehmen.

E&M: Wird es nicht immer komplizierter, die Netze mit all den neuen technischen Möglichkeiten zu betreiben?

Lotze: Um ein effizientes und bedarfsgerechtes Stromnetz aufzubauen, brauchen wir diese neuen technischen Möglichkeiten. Das Energiesystem wird immer höher ausgelastet, weniger planbar und deutlich komplexer. Dadurch wird mit der Energiewende auch der Netzbetrieb anspruchsvoller. Die Zeiten, in denen neben jedem Verbrauchszentrum ein großes Kraftwerk stand, sind vorbei. Gemeinsam mit den anderen deutschen Übertragungsnetzbetreibern arbeiten wir bereits an der innovativen Systemführung der Zukunft.

E&M: Die Netze müssen ja auch für den zunehmenden europäischen Stromaustausch ausgelegt werden. Was muss sich hier verändern?

Lotze: Der grenzüberschreitende Energiehandel wird immer wichtiger. Unsere Studie hat gezeigt, dass nahezu unabhängig vom Szenario ein massiver Ausbau der Infrastruktur notwendig ist: Die EU27 wird eine 2,8-fache Stromhandelskapazität im Vergleich zu heute benötigen. Deutschland profitiert vom wachsenden EU-Binnenmarkt und der zentralen Lage in Europa. Für uns ist es also wichtig und vorteilhaft, die Grenzkuppelstellen im Übertragungsnetz auszubauen. Großen Ausbaubedarf gibt es etwa auch zwischen Frankreich und Spanien, wo viel Photovoltaikstrom unterwegs ist.

E&M: Welche Länder pflegen in Zukunft einen intensiveren Stromaustausch miteinander?

Lotze: Für Frankreich werden zum Beispiel Spanien, Großbritannien und Italien wichtige Handelspartner sein. Deutschland wird viel Strom mit allen seinen Nachbarn austauschen. Gut funktioniert es heute schon etwa mit Österreich und der Schweiz.

E&M: Bitte nennen Sie drei Punkte, die darüber entscheiden, ob die EU bis 2050 klimaneutral ist, oder nicht.

Lotze: Zum einen denke ich, dass die Energiewende nur effizient umgesetzt werden kann, wenn sie auf europäischer Ebene geplant und durchgeführt wird. Eine gemeinsame Beschleunigung des Ausbaus von Windkraft und Photovoltaik ist hier zwingend erforderlich.
Zweitens spielt der Stromsektor beim Erreichen der Klimaziele eine wesentliche Rolle. Strom muss hierbei neu gedacht werden. Um die Erneuerbaren effizient in das System zu integrieren, brauchen wir eine zeitliche Flexibilität durch Speicher und Lastmanagement in allen angeschlossenen Sektoren. Dabei ist es auch wichtig, dass wir als Verbraucher umdenken und unseren Beitrag leisten.
Drittens ist der zügige Um- und Ausbau der Strom- und Gasinfrastruktur zwingend erforderlich. Dafür müssen politische Weichen gestellt werden, aber auch die gesellschaftliche Akzeptanz muss da sein.

E&M: Wie groß ist Ihre Zuversicht, dass wir es schaffen?

Lotze: In Deutschland und auch Europa nimmt die Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft immer weiter Fahrt auf. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichen. Es bleibt aber noch viel zu tun. Wir bei Transnet BW setzen alles daran, unseren Beitrag und unsere Expertise einzusetzen. Mit der Studie haben wir einen machbaren Weg in die klimaneutrale Zukunft von Europa dargestellt. 

Studie „Energy System 2050“

Die von Transnet BW erstellte Studie „Energy System 2050 − towards a decarbonised Europe“ beleuchtet die Zukunft des europäischen Energiesystems auf Grundlage einer im Jahr 2050 zu erreichenden Klimaneutralität. Die Untersuchung beantwortet die Frage, wie Europa unabhängig von Energieimporten werden kann, sie befasst sich mit der zukünftigen Rolle der Sektorenkopplung in Europa und geht auf die Investitionen für die Energiewende ein. Die Studie ist in englischer Sprache verfasst, eine deutsche Zusammenfassung sowie weitere Informationen können auf der Internetseite www.energysystem2050.net heruntergeladen werden.
 
 
Visualisierung eines innovativen Netzausbauprojekts: Der in Kupferzell geplante Netzbooster soll eine bessere Auslastung der Leitungen ermöglichen.
Quelle: Transnet BW
 
So soll die Konverteranlage für das Südlink-Projekt in Leingarten bei Heilbronn aussehen.
Quelle: Transnet BW


 

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Günter Drewnitzky

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