E&M exklusiv Newsletter:
E&M gratis testen:
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung - Die Genetik der Engpassanalyse
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung

Die Genetik der Engpassanalyse

Ein flächendeckender Rollout von intelligenten Messsystemen ist nicht notwendig, um über den Netzzustand informiert zu sein, wie ein Projekt der Stadtwerke Saarlouis gezeigt hat.
Bei den Metering Days des ZVEI im vergangenen November ließ Klaus Müller aufhorchen. „Mehr als bisher. Aber noch zu wenig − viel zu wenig“, sagte der Präsident der Bundesnetzagentur. Nach Erkenntnissen der Behörde hatten 500 grundzuständige Messstellenbetreiber bis zum 30. Juni 2024 weniger als 3 Prozent ihrer jeweiligen Pflichteinbaufälle an intelligenten Messsystemen abgearbeitet. Nur weil einige Große ihr Pensum schon erfüllt oder sogar übererfüllt hätten, seien 9,25 Prozent von den nach damaligem Stand bundesweit insgesamt 5,8 Millionen Pflichteinbaufällen erreicht.

Nach den zumindest zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch gesetzlich geltenden Regelungen werden die Pflichteinbaufälle durch einen jährlichen Stromverbrauch zwischen 6.000 und 100.000 kWh definiert. Erzeugungsanlagen mit 7 bis 100 kW gehören ebenfalls dazu wie auch steuerbare Verbrauchseinrichtungen nach § 14a EnWG.

Ein wesentliches Ziel der Einbaupflicht ist die sogenannte Beobachtbarkeit in der Niederspannung. Allerdings zeigen Projekte wie das vom BMWK geförderte „GridAnalysis“, dass mit KI-Unterstützung kein flächendeckender Rollout intelligenter Messsysteme notwendig ist, um als Netzbetreiber über Einspeisung, Last und den allgemeinen Zustand des Stromnetzes informiert zu sein. „Wir sind mit relativ wenigen intelligenten Messsystemen ausgekommen − dies war eine der wesentlichen Erkenntnisse des Projekts“, sagt Steven Eich im Gespräch mit E&M.

Der Senior Researcher im Innovationsmanagement der Stadtwerke Saarlouis hat Gridanalysis von Anfang an begleitet und war wie die anderen Beteiligten durchaus überrascht, wie gut sich mithilfe von Algorithmen und KI-Systemen mit künstlichen neuronalen Netzen kritische Netzzustände schätzen ließen.

„Von der Netzberechnung über die Netzzustandsschätzung bis zum Livebetrieb“, so beschreibt Eich die Zielsetzung und gleichzeitig Entwicklung des Projekts. „Es ist gar nicht so selbstverständlich, dass solche Forschungsprojekte schließlich auch in die tägliche Praxis übergehen“, so der Innovationsmanager, der zunächst aufseiten der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und später nach seinem Wechsel zu den Stadtwerken Saarlouis daran gearbeitet hat, das Netz „rechenbar“ zu machen.
 
Genetische Algorithmen als Basis der Analyse
 
Als Geistes-, Wirtschafts- oder Rechtswissenschaftler kann man sich vielleicht noch vorstellen, dass ein Algorithmus eine große Anzahl an Messwerten als Basis nimmt, um in mehreren Runden Lastflüsse zu berechnen und am Ende mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Auftreten eines Netzengpasses erkennen oder auch vorhersagen zu können. Was dies dann aber noch mit Biologie zu tun hat, erläutert Steven Eich.

Denn bei Gridanalysis waren genetische Algorithmen die Grundlage der Netzengpassanalyse. „Wir haben in einem stochastischen Modell sowohl PV-Anlagen als auch Elektrofahrzeuge mit Ladestationen per Zufallsprozess verteilt und beliebig ein- und ausgeschaltet“, sagt Eich. Daraus habe der Algorithmus die Netzbelastung ermitteln können.

Über die Definition eines „Health Factors“, quasi den Gesundheitszustand des Netzes, ließen sich dann die Bedingungen für kritische Situationen identifizieren. Schließlich führten Variationen der Anlagenfahrweisen und Rekombinationen in den kritischen Situationen zu immer präziseren Erkenntnissen über die „Fitness“ des Netzes, sodass deutlich wurde, wann und wie Engpässe entstehen.

„Am einfachsten ist natürlich ein Engpass festzustellen, wenn er in der Nähe der Transformatorstationen auftritt“, erklärt Eich. Das könne der Fall sein, wenn etwa viele PV-Anlagen in deren Nähe einspeisen. Entsprechend wird die Stromstärke ansteigen. Was sich am Transformator noch recht einfach messen lässt, stellt einen Netzbetreiber im weiteren Verlauf der Leitung vor immer größere Herausforderungen.

Denn in der Mitte des Strangs lässt sich keine Sensorik wie in der Transformatorstation verbauen. Entweder muss ein genetischer Algorithmus dann die kritischen Situationen errechnen oder KI-Systeme mit künstlichen neuronalen Netzen, die auf Basis von Lastflussberechnungen mit einer riesigen Menge an Rechenergebnissen von den Abgängen des Transformators trainiert wurden, müssen herangezogen werden.

„Wenn man Spannung und Strom an einem bestimmten Abgang misst, kann man daraus schließen, wie sich die Netzzustände über alle Abschnitte dieser Leitung verhalten“, sagt Eich. Mit der Messung an einem einzigen Punkt lässt sich die erwartete Belastung über den gesamten Strang bestimmen.

An dieser Stelle habe sich gezeigt, dass trotz des noch schleppenden Rollouts intelligenter Messsysteme die Blackbox Niederspannung durchaus ausgeleuchtet werden kann. Selbst wenn gar kein intelligentes Messsystem hinter einem Abgang verbaut sei, könne man die Netzzustände sehr gut abschätzen.

Aber Eich stellt auch klar: „Je mehr Messsysteme vorhanden sind, desto besser.“ Schließlich liefere das intelligente Messsystem auch über die Tarifanwendungsfälle 9 und 10 die Ist-Einspeisedaten und Netzzustandsdaten, noch dazu gepaart mit Messwerten zur Spannung. Größere PV-Anlagen und größere Mehrfamilienhäuser könnten dann wesentlich besser in ihrem Verhalten registriert und prognostiziert werden. Was gemessen werden kann, müsse nicht geschätzt werden. So lasse sich sehr genau der konkrete Ausbaubedarf des Netzes feststellen.

Dynamische Tarife als Rollout-Beschleuniger

Am Ende seien die Ermittlung des Netzzustands und die Prognose von Engpässen daher nicht die entscheidenden Treiber des Smart Meter Rollouts, meint Steven Rink, Leiter der Stromversorgung der Stadtwerke Saarlouis. Die Pflicht der Versorger, dynamische Tarife anzubieten, hält er dagegen eher für einen Rollout-Beschleuniger und natürlich das Steuern von Verbrauchern im Zuge des § 14a EnWG. Bei den Vorbereitungen dazu habe Gridanalysis jedoch eine wesentliche Rolle gespielt. Denn das Steuern setze das Wissen um den Netzzustand und die Rechenfähigkeit des Netzes voraus.

Mit rund 97 Prozent beziffert Steven Eich die Abdeckung des Netzes durch einen digitalen Zwilling, in dem die Betriebsmittel und Schaltzustände erfasst werden. Ein neues Forschungsprojekt wird in diesem Jahr dann die gesamte Kette inklusive der Steuerboxen abbilden, welche die Stadtwerke Saarlouis von ihrem Dienstleister Hausheld beziehen.

Die Wahrscheinlichkeit, schon in Kürze auf der Verbrauchsseite tatsächlich steuernd eingreifen zu müssen, dürfte im Netz der Stadtwerke eher gering sein. „Im Rahmen von Gridanalysis haben wir festgestellt, dass noch Luft nach oben ist“, betont Rink.

Anders sehe es auf der Erzeugungsseite aus. Wie bei anderen Verteilnetzbetreibern stellen die Verantwortlichen auch in Saarlouis zeitweise eine hohe Rückspeisung von der Nieder- und die Mittelspannung fest. So sei weniger die viel zitierte „Zahnarzt-Allee“ auffällig geworden als vielmehr das eine oder andere ländliche Gebiet mit zahlreichen PV-Anlagen, deren Strom an Sonn- und Feiertagen im Frühjahr und Sommer ungenutzt in die vorgelagerte Netzebene geschoben werden müsse, sagt der Leiter der Stromversorgung.

Die Spannungsanhebung, welche die PV-Anlagen verursachen und die von der Leitungslänge abhängig ist, lasse sich nicht so einfach beseitigen. Im Bestand die Leitungslänge zu kürzen oder ein zweites Kabel dazuzulegen, seien keine Optionen. In einem solchen Fall seien Flexibilitäten gefragt.

Dass langfristig die Netze in der Niederspannung weiter ausgebaut werden müssen, ist Konsens in der Branche. Genauso ist aber auch klar, dass kurzfristig andere Optionen zum Zuge kommen müssen, um Engpässe zu vermeiden und den relativ teuren Netzausbau auf das absolut notwendige Maß zu beschränken.

Flexibilitäten − auch Kleinstflexibilitäten von Haushalten − sind solche Optionen, denn das Steuern nach § 14a EnWG, also das „Dimmen“ von Verbrauchsanlagen, wie es die Bundesnetzagentur nennt, soll Ultima Ratio bleiben. Kleinstflexibilitäten können straßen-, ortsnetz- oder stadtteilbezogen, je nachdem wo und wie ein Netzengpass droht, aggregiert und netzdienlich eingesetzt werden. Um Haushalten einen Anreiz zu geben, ihren Verbrauch zu flexibilisieren, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine davon haben die Stadtwerke Saarlouis im Forschungsprojekt „FlexChain“ getestet.

Es ging dabei um eine Handelsplattform, über die in einer verdeckten Auktion ein Matchmaking stattfindet: auf der einen Seite die Preisvorstellung des Netzbetreibers, was ihm das netzdienliche Verhalten eines Haushalts wert ist, auf der anderen Seite das Angebot der Verbraucher. Die Abwicklung der Transaktionen erfolgte blockchainbasiert. Ansatzpunkt bei den Haushalten waren Heimenergiemanagementsysteme, über die sich die Verbraucher hinter dem Netzanschlusspunkt selbst optimieren und damit sichergehen konnten, dass ihre Präferenzen gewahrt bleiben.

Im Vordergrund stand, den Handelsmechanismus zu testen. „Aber wenn sich der Kunde dazu bereit erklärt, sein Energiemanagementsystem auslesen zu lassen, kann ich als Netzbetreiber sehr viel über sein Verhalten und die entsprechende Belastung des Netzes lernen“, sagt Steven Eich.

Flexchain hat weitere Forschungsarbeiten angestoßen. Über eine Sache waren sich die Partner aber schon beim Abschluss des Projekts im Februar 2024 sicher: Die Bedeutung von haushaltsnahen Flexibilitäten darf auf keinen Fall unterschätzt werden. 

Von der Forschung in die Praxis

Mit „GridAnalysis“ haben die Stadtwerke Saarlouis ein Forschungsprojekt zum Netzbetrieb in der Niederspannung nach dessen Abschluss im Frühjahr 2024 in die Praxis überführt. Neue Modelle und Methoden zur Simulation von Stromnetzen wurden evaluiert und damit die klassische Netzberechnung mit KI-gestützten Verfahren kombiniert. Projektpartner waren die Stadtwerke Saarlouis, die VSE Verteilnetz GmbH, die Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes sowie das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz.
Im Rahmen von „FlexChain“ haben die Stadtwerke Saarlouis gemeinsam mit Vivavis, Storegio, der Hager Group, dem August-Wilhelm Scheer Institut und Oli Systems die blockchainbasierte Aktivierung von kleinen Flexibilitätspotenzialen im Niederspannungsnetz erprobt.
In einem neuen Projekt mit der Bezeichnung „ModellEEGe“ sollen in ausgewählten Quartieren im Versorgungsgebiet der Stadtwerke Saarlouis umsetzungsreife Modelle für die gemeinschaftliche Nutzung von Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien entwickelt werden. Grundlage ist das Teilen von Strom über das öffentliche Netz. Damit sollen auch Bewohnerinnen und Bewohner, die keine eigene PV-Anlage besitzen (können), die Möglichkeit erhalten, die Energiewende mitzugestalten und an ihr zu partizipieren. Das Projekt, an dem noch die Arge Solar und das Institut für Zukunftsenergie- und Stoffstromsysteme beteiligt sind, wird vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert.
 

 

Dienstag, 18.02.2025, 09:00 Uhr
Fritz Wilhelm
Energie & Management > Aus Der Aktuellen Zeitung - Die Genetik der Engpassanalyse
Quelle: E&M
Aus Der Aktuellen Zeitung
Die Genetik der Engpassanalyse
Ein flächendeckender Rollout von intelligenten Messsystemen ist nicht notwendig, um über den Netzzustand informiert zu sein, wie ein Projekt der Stadtwerke Saarlouis gezeigt hat.
Bei den Metering Days des ZVEI im vergangenen November ließ Klaus Müller aufhorchen. „Mehr als bisher. Aber noch zu wenig − viel zu wenig“, sagte der Präsident der Bundesnetzagentur. Nach Erkenntnissen der Behörde hatten 500 grundzuständige Messstellenbetreiber bis zum 30. Juni 2024 weniger als 3 Prozent ihrer jeweiligen Pflichteinbaufälle an intelligenten Messsystemen abgearbeitet. Nur weil einige Große ihr Pensum schon erfüllt oder sogar übererfüllt hätten, seien 9,25 Prozent von den nach damaligem Stand bundesweit insgesamt 5,8 Millionen Pflichteinbaufällen erreicht.

Nach den zumindest zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch gesetzlich geltenden Regelungen werden die Pflichteinbaufälle durch einen jährlichen Stromverbrauch zwischen 6.000 und 100.000 kWh definiert. Erzeugungsanlagen mit 7 bis 100 kW gehören ebenfalls dazu wie auch steuerbare Verbrauchseinrichtungen nach § 14a EnWG.

Ein wesentliches Ziel der Einbaupflicht ist die sogenannte Beobachtbarkeit in der Niederspannung. Allerdings zeigen Projekte wie das vom BMWK geförderte „GridAnalysis“, dass mit KI-Unterstützung kein flächendeckender Rollout intelligenter Messsysteme notwendig ist, um als Netzbetreiber über Einspeisung, Last und den allgemeinen Zustand des Stromnetzes informiert zu sein. „Wir sind mit relativ wenigen intelligenten Messsystemen ausgekommen − dies war eine der wesentlichen Erkenntnisse des Projekts“, sagt Steven Eich im Gespräch mit E&M.

Der Senior Researcher im Innovationsmanagement der Stadtwerke Saarlouis hat Gridanalysis von Anfang an begleitet und war wie die anderen Beteiligten durchaus überrascht, wie gut sich mithilfe von Algorithmen und KI-Systemen mit künstlichen neuronalen Netzen kritische Netzzustände schätzen ließen.

„Von der Netzberechnung über die Netzzustandsschätzung bis zum Livebetrieb“, so beschreibt Eich die Zielsetzung und gleichzeitig Entwicklung des Projekts. „Es ist gar nicht so selbstverständlich, dass solche Forschungsprojekte schließlich auch in die tägliche Praxis übergehen“, so der Innovationsmanager, der zunächst aufseiten der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und später nach seinem Wechsel zu den Stadtwerken Saarlouis daran gearbeitet hat, das Netz „rechenbar“ zu machen.
 
Genetische Algorithmen als Basis der Analyse
 
Als Geistes-, Wirtschafts- oder Rechtswissenschaftler kann man sich vielleicht noch vorstellen, dass ein Algorithmus eine große Anzahl an Messwerten als Basis nimmt, um in mehreren Runden Lastflüsse zu berechnen und am Ende mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Auftreten eines Netzengpasses erkennen oder auch vorhersagen zu können. Was dies dann aber noch mit Biologie zu tun hat, erläutert Steven Eich.

Denn bei Gridanalysis waren genetische Algorithmen die Grundlage der Netzengpassanalyse. „Wir haben in einem stochastischen Modell sowohl PV-Anlagen als auch Elektrofahrzeuge mit Ladestationen per Zufallsprozess verteilt und beliebig ein- und ausgeschaltet“, sagt Eich. Daraus habe der Algorithmus die Netzbelastung ermitteln können.

Über die Definition eines „Health Factors“, quasi den Gesundheitszustand des Netzes, ließen sich dann die Bedingungen für kritische Situationen identifizieren. Schließlich führten Variationen der Anlagenfahrweisen und Rekombinationen in den kritischen Situationen zu immer präziseren Erkenntnissen über die „Fitness“ des Netzes, sodass deutlich wurde, wann und wie Engpässe entstehen.

„Am einfachsten ist natürlich ein Engpass festzustellen, wenn er in der Nähe der Transformatorstationen auftritt“, erklärt Eich. Das könne der Fall sein, wenn etwa viele PV-Anlagen in deren Nähe einspeisen. Entsprechend wird die Stromstärke ansteigen. Was sich am Transformator noch recht einfach messen lässt, stellt einen Netzbetreiber im weiteren Verlauf der Leitung vor immer größere Herausforderungen.

Denn in der Mitte des Strangs lässt sich keine Sensorik wie in der Transformatorstation verbauen. Entweder muss ein genetischer Algorithmus dann die kritischen Situationen errechnen oder KI-Systeme mit künstlichen neuronalen Netzen, die auf Basis von Lastflussberechnungen mit einer riesigen Menge an Rechenergebnissen von den Abgängen des Transformators trainiert wurden, müssen herangezogen werden.

„Wenn man Spannung und Strom an einem bestimmten Abgang misst, kann man daraus schließen, wie sich die Netzzustände über alle Abschnitte dieser Leitung verhalten“, sagt Eich. Mit der Messung an einem einzigen Punkt lässt sich die erwartete Belastung über den gesamten Strang bestimmen.

An dieser Stelle habe sich gezeigt, dass trotz des noch schleppenden Rollouts intelligenter Messsysteme die Blackbox Niederspannung durchaus ausgeleuchtet werden kann. Selbst wenn gar kein intelligentes Messsystem hinter einem Abgang verbaut sei, könne man die Netzzustände sehr gut abschätzen.

Aber Eich stellt auch klar: „Je mehr Messsysteme vorhanden sind, desto besser.“ Schließlich liefere das intelligente Messsystem auch über die Tarifanwendungsfälle 9 und 10 die Ist-Einspeisedaten und Netzzustandsdaten, noch dazu gepaart mit Messwerten zur Spannung. Größere PV-Anlagen und größere Mehrfamilienhäuser könnten dann wesentlich besser in ihrem Verhalten registriert und prognostiziert werden. Was gemessen werden kann, müsse nicht geschätzt werden. So lasse sich sehr genau der konkrete Ausbaubedarf des Netzes feststellen.

Dynamische Tarife als Rollout-Beschleuniger

Am Ende seien die Ermittlung des Netzzustands und die Prognose von Engpässen daher nicht die entscheidenden Treiber des Smart Meter Rollouts, meint Steven Rink, Leiter der Stromversorgung der Stadtwerke Saarlouis. Die Pflicht der Versorger, dynamische Tarife anzubieten, hält er dagegen eher für einen Rollout-Beschleuniger und natürlich das Steuern von Verbrauchern im Zuge des § 14a EnWG. Bei den Vorbereitungen dazu habe Gridanalysis jedoch eine wesentliche Rolle gespielt. Denn das Steuern setze das Wissen um den Netzzustand und die Rechenfähigkeit des Netzes voraus.

Mit rund 97 Prozent beziffert Steven Eich die Abdeckung des Netzes durch einen digitalen Zwilling, in dem die Betriebsmittel und Schaltzustände erfasst werden. Ein neues Forschungsprojekt wird in diesem Jahr dann die gesamte Kette inklusive der Steuerboxen abbilden, welche die Stadtwerke Saarlouis von ihrem Dienstleister Hausheld beziehen.

Die Wahrscheinlichkeit, schon in Kürze auf der Verbrauchsseite tatsächlich steuernd eingreifen zu müssen, dürfte im Netz der Stadtwerke eher gering sein. „Im Rahmen von Gridanalysis haben wir festgestellt, dass noch Luft nach oben ist“, betont Rink.

Anders sehe es auf der Erzeugungsseite aus. Wie bei anderen Verteilnetzbetreibern stellen die Verantwortlichen auch in Saarlouis zeitweise eine hohe Rückspeisung von der Nieder- und die Mittelspannung fest. So sei weniger die viel zitierte „Zahnarzt-Allee“ auffällig geworden als vielmehr das eine oder andere ländliche Gebiet mit zahlreichen PV-Anlagen, deren Strom an Sonn- und Feiertagen im Frühjahr und Sommer ungenutzt in die vorgelagerte Netzebene geschoben werden müsse, sagt der Leiter der Stromversorgung.

Die Spannungsanhebung, welche die PV-Anlagen verursachen und die von der Leitungslänge abhängig ist, lasse sich nicht so einfach beseitigen. Im Bestand die Leitungslänge zu kürzen oder ein zweites Kabel dazuzulegen, seien keine Optionen. In einem solchen Fall seien Flexibilitäten gefragt.

Dass langfristig die Netze in der Niederspannung weiter ausgebaut werden müssen, ist Konsens in der Branche. Genauso ist aber auch klar, dass kurzfristig andere Optionen zum Zuge kommen müssen, um Engpässe zu vermeiden und den relativ teuren Netzausbau auf das absolut notwendige Maß zu beschränken.

Flexibilitäten − auch Kleinstflexibilitäten von Haushalten − sind solche Optionen, denn das Steuern nach § 14a EnWG, also das „Dimmen“ von Verbrauchsanlagen, wie es die Bundesnetzagentur nennt, soll Ultima Ratio bleiben. Kleinstflexibilitäten können straßen-, ortsnetz- oder stadtteilbezogen, je nachdem wo und wie ein Netzengpass droht, aggregiert und netzdienlich eingesetzt werden. Um Haushalten einen Anreiz zu geben, ihren Verbrauch zu flexibilisieren, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine davon haben die Stadtwerke Saarlouis im Forschungsprojekt „FlexChain“ getestet.

Es ging dabei um eine Handelsplattform, über die in einer verdeckten Auktion ein Matchmaking stattfindet: auf der einen Seite die Preisvorstellung des Netzbetreibers, was ihm das netzdienliche Verhalten eines Haushalts wert ist, auf der anderen Seite das Angebot der Verbraucher. Die Abwicklung der Transaktionen erfolgte blockchainbasiert. Ansatzpunkt bei den Haushalten waren Heimenergiemanagementsysteme, über die sich die Verbraucher hinter dem Netzanschlusspunkt selbst optimieren und damit sichergehen konnten, dass ihre Präferenzen gewahrt bleiben.

Im Vordergrund stand, den Handelsmechanismus zu testen. „Aber wenn sich der Kunde dazu bereit erklärt, sein Energiemanagementsystem auslesen zu lassen, kann ich als Netzbetreiber sehr viel über sein Verhalten und die entsprechende Belastung des Netzes lernen“, sagt Steven Eich.

Flexchain hat weitere Forschungsarbeiten angestoßen. Über eine Sache waren sich die Partner aber schon beim Abschluss des Projekts im Februar 2024 sicher: Die Bedeutung von haushaltsnahen Flexibilitäten darf auf keinen Fall unterschätzt werden. 

Von der Forschung in die Praxis

Mit „GridAnalysis“ haben die Stadtwerke Saarlouis ein Forschungsprojekt zum Netzbetrieb in der Niederspannung nach dessen Abschluss im Frühjahr 2024 in die Praxis überführt. Neue Modelle und Methoden zur Simulation von Stromnetzen wurden evaluiert und damit die klassische Netzberechnung mit KI-gestützten Verfahren kombiniert. Projektpartner waren die Stadtwerke Saarlouis, die VSE Verteilnetz GmbH, die Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes sowie das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz.
Im Rahmen von „FlexChain“ haben die Stadtwerke Saarlouis gemeinsam mit Vivavis, Storegio, der Hager Group, dem August-Wilhelm Scheer Institut und Oli Systems die blockchainbasierte Aktivierung von kleinen Flexibilitätspotenzialen im Niederspannungsnetz erprobt.
In einem neuen Projekt mit der Bezeichnung „ModellEEGe“ sollen in ausgewählten Quartieren im Versorgungsgebiet der Stadtwerke Saarlouis umsetzungsreife Modelle für die gemeinschaftliche Nutzung von Strom und Wärme aus erneuerbaren Energien entwickelt werden. Grundlage ist das Teilen von Strom über das öffentliche Netz. Damit sollen auch Bewohnerinnen und Bewohner, die keine eigene PV-Anlage besitzen (können), die Möglichkeit erhalten, die Energiewende mitzugestalten und an ihr zu partizipieren. Das Projekt, an dem noch die Arge Solar und das Institut für Zukunftsenergie- und Stoffstromsysteme beteiligt sind, wird vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert.
 

 

Dienstag, 18.02.2025, 09:00 Uhr
Fritz Wilhelm

Haben Sie Interesse an Content oder Mehrfachzugängen für Ihr Unternehmen?

Sprechen Sie uns an, wenn Sie Fragen zur Nutzung von E&M-Inhalten oder den verschiedenen Abonnement-Paketen haben.
Das E&M-Vertriebsteam freut sich unter Tel. 08152 / 93 11-77 oder unter vertrieb@energie-und-management.de über Ihre Anfrage.