Quelle: E&M
Ab dem 1. April muss die gesamte Marktkommunikation Strom über das Nachrichtenprotokoll AS4 laufen. Doch noch längst nicht alle sind bereit dafür.
962 Marktpartner sind es insgesamt, mit denen die Stadtwerke Emden (SWE) in verschiedenen Rollen im Strommarkt Nachrichten austauschen. Seit dem 1. Oktober 2023 sollte das über das neu eingeführte, sichere Nachrichtenprotokoll AS4 passieren. Doch auf die Frage, mit wie vielen Marktpartnern ihr Unternehmen derzeit problemfrei nach den neuen Standards kommuniziere, antwortet Annika Hinrichs, Koordinatorin Marktkommunikation Netz bei den SWE, nur kurz und trocken: „Dreizehn.“
Dabei ist es zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits Mitte Februar 2024. Und die Uhr tickt: Die Übergangsphase zur Einführung des neuen Standards endet am 1. April. Ab dann, so hat es die Bundesnetzagentur festgelegt, ist ein Ausweichen auf die bisher übliche E-Mail-Kommunikation ganz ausgeschlossen. Betroffen von der Neuregelung sind sämtliche Teilnehmer des Strommarkts, also Netzbetreiber, Übertragungsnetzbetreiber, Bilanzkoordinatoren, Lieferanten, Bilanzkreisverantwortliche, Messstellenbetreiber und Energieserviceanbieter.
Doch noch hakt es, wie Annika Hinrichs und ihr Kollege Gerrit Fahrenholz, Prozessmanager bei den SWE, berichten. Sie haben mit „Schleupen AS4 Connect“ zwar eine funktionsfähige Softwarelösung im Einsatz. Aber: Testnachrichten an Marktpartner zur Initiierung der Umstellung kommen nicht an oder werden nicht beantwortet, Marktpartner schicken AS4-Zertifikate per E-Mail und manche Marktteilnehmer scheinen noch überhaupt keine AS4-Lösung im Einsatz zu haben. „In unserer Rolle als Verteilnetzbetreiber müssen wir noch die Kommunikation mit 497 Marktpartnern umstellen“, sagt Hinrichs, „in unserer Marktrolle Messstellenbetreiber sind es es noch 719.“
Offizielle Zahlen zum Fortschritt der AS4-Umstellung gibt es nicht. „Die Bundesnetzagentur führt kein flächendeckendes marktweites Monitoring über bereits auf AS4 umgestellte Kommunikationsbeziehungen durch“, heißt es auf Anfrage bei der Regulierungsbehörde. Dass man auch dort etwas beunruhigt auf den bisherigen Fortschritt schaut, zeigt eine Mitteilung vom 16. Januar, in der die Behörde noch mal ausdrücklich auf das bevorstehende Ende der Übergangsphase hinweist. „Sofern die elektronische Marktkommunikation zum 1. April 2024 nicht funktionsfähig auf AS4 unter Nutzung der Smart Metering PKI umgestellt sein sollte, bedeutet dies für betroffene Marktteilnehmer, dass diese ab dem 1. April 2024 nicht mehr am elektronischen Austausch von Nachrichten teilnehmen können“, heißt es darin.
Plattdeutsch und Schwäbisch
Sebastian Weiße, Lösungsarchitekt beim Softwareentwickler SIV AG und Initiator der AS4-Projektgruppe im Edna Bundesverband Energiemarkt & Kommunikation, schätzt den bisherigen Fortschritt auf etwa 10 bis 15 Prozent. Dabei hatte sich seine Projektgruppe mit zuletzt 43 Teilnehmern aus 23 Softwarehäusern bereits im März 2022 zusammengefunden, um die Einführung vorzubereiten.
So habe man viele Fehler ausmerzen können, berichtet er. Aber die Festlegung der Anforderungen an die AS4-Lösungen durch den BDEW sei mit dem Erscheinen am 1. September 2022 − wenn auch fristgerecht nach den Festlegungen der Bundesnetzagentur − später erfolgt, als sich das die Branche gewünscht hätte. Die für die Zertifikatsausstellung notwendigen Spezifikationen des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) folgten gar erst im Januar 2023.
Die Entwickler hätten damit sehr wenig Zeit für die Ausarbeitung und das Testen der Lösungen gehabt, was man nun deutlich merke, so Weiße. „Die Probleme liegen in den Details der Umsetzung“, sagt er und vergleicht den AS4-Tunnel, über den die Kommunikation nun laufen muss, mit einem VPN-Tunnel oder einem Webservice. „Das ist etwas ganz anderes als eine E-Mail-Kommunikation. Beide Seiten müssen online sein und dieselbe Sprache sprechen.“
Dialekte dürfe es dabei keine geben. „Wenn ein Schwabe schwäbisch spricht, verstehe ich auch nur die Hälfte“, sagt der Experte aus Mecklenburg-Vorpommern. „Bei AS4 darf das nicht passieren, die müssen wirklich beide hochdeutsch sprechen.“ Und momentan sei es so: Es sprechen zwar alle deutsch und einige auch schon hochdeutsch, manche aber noch plattdeutsch und andere schwäbisch.
Zu den Schwierigkeiten beigetragen hätten auch die Interpretationsspielräume, die die Festlegungen an vielen Stellen ließen, so Weiße. Eine Einschätzung, die auch die Softwarehäuser Schleupen und Soptim teilen. „Natürlich ist das der Komplexität des Themas geschuldet“, sagt Judith Kiessner, Head of Sales bei Soptim, deren Lösung „SAGA“ mittlerweile bei etwa 20 Kunden produktiv läuft. „Es gab viele Unklarheiten. Und manchmal merkt man erst im Test mit anderen Marktteilnehmern, dass es unterschiedliche Interpretationen der Dokumente gibt.“
Eine weitere Hürde im Einführungsprozess sind die für den Identifikationsprozess notwendigen Zertifikate. Zwölf Zertifikatsanbieter (Sub-Certificate Authorities, kurz Sub-CA) sind beim BSI registriert. Jeder Marktteilnehmer muss sich hier registrieren lassen und entsprechende Zertifikate anfordern, wobei nicht alle Sub-CA auch Zertifikate ausstellen. Dabei, berichten die Marktteilnehmer, sei auch die Antragstellung für die Zertifikate kompliziert. „Auch dies ist etwas, das man geneigt ist zu unterschätzen“, so Kiessner.
Viele Nachzügler
Die Schleupen SE, deren Lösung „AS4 Connect“ bei rund 200 Kunden im Einsatz ist, tut sich in dieser Hinsicht etwas leichter: Das Unternehmen ist selber als Sub-CA registriert und bietet Zertifikate auch für Nutzer von AS4-Lösungen anderer Anbieter, ein Service, der gerade sehr gefragt ist. „Das ist sicher ein Nadelöhr“, sagt Volker Kruschinski, Vorstandsvorsitzender bei Schleupen. Er merkt aber auch an, dass − vorausgesetzt, man hätte den gesamten Umsetzungszeitraum genutzt − die Kapazitäten eigentlich ausreichend gewesen wären. Einige Marktteilnehmer hätten sich allerdings erst sehr spät mit dem Thema auseinandergesetzt: „Ich glaube, Teil des Problems war, dass viele Unternehmen gerade im vergangenen Jahr sehr ausgelastet waren.“
Etliche regulatorische Änderungen seien umzusetzen gewesen, hinzu kommen die Anforderungen von Energiekrise, Energiewende und Netzausbau und der Fachkräftemangel. Das habe Kapazitäten gebunden, sodass die Entscheidung, wie man die Umstellung umsetzen oder mit welchem Dienstleister man zusammenarbeiten will, oft spät oder vielleicht noch immer nicht gefallen sei. Tatsächlich berichten alle befragten Lösungsanbieter, dass bei ihnen auch jetzt noch Anfragen von Marktteilnehmern eingehen, die mit der Umstellung noch gar nicht begonnen haben.
Was also wird am 1. April − zudem noch ein Feiertag − passieren? Die Bundesnetzagentur warnt, dass sich eine mangelnde Umsetzung auf das Fortbestehen des Lieferantenrahmenvertrags beziehungsweise des Netznutzungsvertrags auswirken könne. Auch stünden der Behörde „erforderlichenfalls Mittel der Verwaltungsvollstreckung (etwa Zwangsgeld) zur Verfügung, um Unternehmen zur Umsetzung der Festlegung anzuhalten“.
Ankündigungen, die bei den Emdener Stadtwerken Unbehagen auslösen. „Wenn der Marktpartner nicht mehr teilnehmen kann an der Marktkommunikation, dann stellt sich natürlich auch die Frage: Was passiert mit den Kunden?“, fragt Annika Hinrichs. Wenn Kunden in der Folge ohne Stromlieferanten dastehen, Wechselprozesse angestoßen und abgewickelt werden und Strommengen nachbeschafft werden müssen, „das ist auch für uns als Grundversorger nicht unerheblich“.
Eine Terminverschiebung aber wünschen sich die wenigsten. „Den Druck sollte man jetzt machen“, sagt Schleupen-Chef Kruschinski. „Ich glaube aber, dass sich das dann relativ schnell einschwingen wird. Und wenn es einmal läuft, dann läuft es auch relativ automatisiert ab.“ Das sollte es auch, denn nach der Einführung ist vor der Einführung: Ab dem 1. Oktober soll AS4 auch im Fahrplanmanagement zum Standard werden. Und zum 1. April 2025 ist die Kommunikation auf dem Gasmarkt nur noch über AS4 möglich.
Freitag, 8.03.2024, 09:10 Uhr
Katia Meyer-Tien
© 2024 Energie & Management GmbH