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Mario Draghi zeichnet ein alarmierendes Bild der europäischen Wirtschaft. Die Energiewirtschaft sei eine Belastung für die Wettbewerbsfähigkeit Europas.
Die EU hatte den italienischen Wirtschaftswissenschaftler Mario Draghi mit einer Bestandsaufnahme der europäischen Wirtschaft betraut. Er sollte außerdem Vorschläge unterbreiten, welche wirtschaftspolitischen Schwerpunkte die neue EU-Kommission in den nächsten fünf Jahren setzen soll. Die Bestandsaufnahme des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank fällt ungeschminkt aus, auch mit Blick auf die Energiewirtschaft.
Die hohen Energiepreise sind nach Ansicht Draghis ein Klotz am Bein der europäischen Industrie: „Die hohen Energiekosten sind ein Hindernis für das Wachstum“, heißt es in dem Bericht. Die Produktion der energieintensiven Industrien sei in den vergangenen n drei Jahren um 10 bis 15 Prozent gesunken. Die Importe energieintensiver Produkte aus Ländern mit niedrigeren Energiekosten seien im Gegenzug angestiegen. Ohne massiven Ausbau der Erzeugung und der Netzkapazitäten werde die europäische Wirtschaft auch den Anschluss an die digitale Entwicklung verlieren. Der Energiebedarf der Datenzentren für den Einsatz künstlicher Intelligenz werde bis 2030 voraussichtlich um 28 Prozent zunehmen.
Die Industrie leide zudem darunter, dass die Klimaziele der EU wesentlich anspruchsvoller seien als die ihrer Wettbewerber. Die europäischen Unternehmen müssten deswegen wesentlich höhere Summen investieren als zum Beispiel in den USA oder China. Alleine die chemische, die metallverarbeitende, die Keramik- und Papierindustrie müssten in den nächsten 15 Jahren 500 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um die von Brüssel beschlossenen Klimaziele zu erreichen, Reedereien und Airlines weitere 100 Milliarden Euro. Zusätzlich müssten die Unternehmen einen CO2-Preis bezahlen, der in den meisten anderen Ländern nicht erhoben werde oder wesentlich niedriger sei.
Nur verzögerte Wirkung klimapolitischer Maßnahmen
Die Wirkung der Klimapolitik auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie werde sich erst in den nächsten Jahren zeigen, wenn die energieintensiven Branchen ihre CO2-Zertifikate nicht mehr gratis bekämen. Ob die Einführung des Klimazolls (CBAM) diese Belastung am Ende ausgleichen könne, stehe in den Sternen. In der Energiewirtschaft biete die Dekarbonisierung die Chance einer sicheren und preiswerteren Versorgung. Bislang gelinge es aber nicht, die niedrigen Grenzkosten der Erneuerbaren und der Atomenergie an die privaten und die industriellen Verbraucher weiterzugeben.
Auf dem Gasmarkt gelinge es der EU nicht ausreichend, ihre starke Stellung als größter LNG-Importeur zu nutzen. Nur an den Spotmärkten spiele die aggregierte Nachfrage aus Europa eine Rolle. Zwar seien die Gaspreise deutlich gefallen, mittelfristig drohe jedoch eine volatile Entwicklung. Das liege auch daran, dass auf den Terminmärkten zu wenige Teilnehmer den Ton angeben. So würden am niederländischen TTF-Hub 60 Prozent der Positionen von nur fünf Händlern gehalten. Draghi empfiehlt hier eine Obergrenze für die Positionen festzulegen, die ein Händler halten darf.
Der hohe und schwankende Gaspreis spiele auf dem Elektrizitätsmarkt weiter eine zu große Rolle. Obwohl 2022 nur 20 Prozent des Stroms aus Erdgas erzeugt wurden, bestimmte dieser Energieträger in 63 Prozent der Zeit den Preis. Hier sollten die von der EU empfohlenen Instrumente (Power Purchase Agreements, Contract for Difference) stärker zum Einsatz kommen, um den Verbrauchern günstigen Strom aus Wind, Sonne oder Atomkraft zu liefern und die Preisschwankungen zu reduzieren.
Zubau von Erneuerbaren und Netzen zu langsam
Draghi macht sich allerdings keine Illusionen über die Geschwindigkeit einer solchen Entwicklung. Selbst wenn die Ziele zum Ausbau der Erneuerbaren erreicht würden, werde die fossile Erzeugung ihre preissetzende Rolle nur langsam einbüßen. Die Elektrizitätswirtschaft leide auch daran, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netzinfrastruktur „langsam und suboptimal“ vonstattengehe. Die Genehmigung von Kraftwerken oder Leitungen dauere insgesamt zu lange, auch wenn es große Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten gebe. So bekomme man einen Offshore-Windpark in dem einen Land schon nach weniger als drei Jahren genehmigt, in anderen dauere es bis zu neun Jahre.
Kosten- und preistreibend seien auch die hohen Steuern auf Strom und der CO2-Preis, die über die Jahre eine wichtige Einnahmequelle für die Finanzminister geworden seien. In den USA etwa würden überhaupt keine Steuern auf Strom und Gas erhoben und die Kosten aus dem kalifornischen CO2-Handel seien nur halb so hoch wie im ETS.
Vor einer schwierigen Entscheidung stehe die EU mit Blick auf die sauberen Technologien. Ein Fünftel davon seien in der EU entwickelt worden, in den vergangenen Jahren sei die Innovationsrate aber deutlich zurückgegangen. Für Wind-, Solartechnologie oder Elektroautos sei Europa der weltweit zweitgrößte Markt, habe seine technologische Führung aber teilweise eingebüßt. Bei der Herstellung von Solarpaneelen etwa spiele Europa keine Rolle mehr. Bei anderen Technologien wie Elektrolyseuren oder Abscheidung und Speicherung von CO2 (Carbon Capture and Storage, CCS) zeichne sich eine ähnliche Entwicklung ab.
EU fehlt industriepolitische Strategie
Im Gegensatz zu China und den USA habe die EU keine industriepolitische Strategie, um diese Technologien systematisch zu fördern. Der Industrie fehle eine stabile Nachfrage, sie habe höhere Kosten und sehe sich Wettbewerbern gegenüber, die üppiger subventioniert würden. Auch europäische Unternehmen, die saubere Technologien beherrschten, verlagerten ihre Produktion deswegen in die USA oder nach China.
Weil die EU keine Strategie habe, um ihre Klimapolitik umzusetzen, komme es auch immer wieder zu widersprüchlichen politischen Entscheidungen. So habe man einerseits beschlossen, Autos mit Verbrennermotor ab 2035 nicht mehr zuzulassen, versäumt habe man aber, der Elektrizitätswirtschaft entsprechende Ausbauziele für den Bau von Ladesäulen vorzugeben.
Montag, 9.09.2024, 15:14 Uhr
Tom Weingärtner
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