Der vermehrte Stromimport aus dem Ausland sorgte jüngst für Schlagzeilen. Von neuen Abhängigkeiten ist dabei die Rede. Dem widersprechen Experten.
Die gute Nachricht zuerst: Nein, die deutsche Stromversorgung ist nicht in Gefahr. Zumindest nicht aufgrund des Imports und Exports von Strom nach und aus Deutschland. Das war der einstimmige Tenor der beiden Experten eines Webinars der Initiative Klimaneutrales Deutschland (IKND).
Im Jahr 2023 habe Deutschland seit 20 Jahren mehr Strom importiert als exportiert, sagte die IKND-Geschäftsführerin der Carolin Friedemann zu Beginn der Veranstaltung und auch dieses Jahr werde es wohl dabeibleiben. „Schlagzeilen wie ‚Deutschland wird zum Strombettler‘ machten daraufhin die Runde“, sagtet sie.
Wie sieht die Wirklichkeit aus? Professor Lion Hirth von der Hertie School Berlin sagte, der grenzüberschreitende Strommarkt in Europa „ist seit Jahrzehnten Alltag.“ Es sei völlig normal, dass Strom von einem Land ins andere fließe. Dabei sei der Stromfluss ganz real und erfolge nicht virtuell, wie manche meinten.
Der Stromaustausch zwischen den Ländern sei dabei von verschiedenen Faktoren abhängig. Die Faktoren sind unter anderem der Stromverbrauch in den einzelnen Ländern, Kraftwerksverfügbarbkeit , Brennstoffkosten und freilich auch das Wetter. Der Strom fließt dahin, wo er benötigt und damit dort auch teurer ist, unterm Strich tritt aber eine Harmonisierung des Strompreises ein.
Der Stromaustausch werde von den europäischen Übertragungsnetzbetreibern organisiert und sei dabei weitestgehend automatisiert. Der Strombedarf werde alle 15 Minuten abgeglichen. „In Deutschland können gleichzeitig Importe und Exporte stattfinden.“ Es könne sein, dass überschüssiger Windstrom aus Skandinavien importiert wird und gleichzeitig die Schweiz Strom aus Deutschland nachfrägt.
„Der Strom wird aus dem Ausland eingekauft, weil er günstiger ist. Das heißt nicht, dass der Strom nicht auch in heimischen Kraftwerken erzeugt werden kann“, so Hirth. Das bedeute im Umkehrschluss: Stromimporte hätten nicht unbedingt mit Versorgungssicherheit zu tun. „Die Kraftwerke verschwinden ja nicht, weil sie mal ausgeschaltet sind.“
Wohlfahrtsgewinne in Milliardenhöhe
Der internationale Stromhandel sorgt dafür, dass die Versorgungssicherheit in ganz Europa gewährleistet wird. Die Stromspitzen an kalten Wintertagen in Frankreich werden auch durch Stromimporte gedeckt, da viele Haushalte im Nachbarland mit Storm heizen. „Seit Jahrzehnten ist es gelebte Praxis, dass sich die Länder gegenseitig bei Engpässen und Krisen unterstützen.“ Und: Die Stromproduzenten werden dafür auch bezahlt.
Andre Estermann, Leiter des Fachgebiets Cross Border Management beim Übertragungsnetzbetreiber 50 Hertz, sagte, der EU-Strommarkt habe in den vergangenen Jahren erfolgreich verschiedene Krisen gemeistert. Bestes Beispiel sei die Krise im Jahr 2022 gewesen, als Russland die Ukraine überfallen hat und die Energiepreise in ungeahnte Höhe gingen.
Durch das Zusammenspiel aller Akteure seien die heftigen Preisausschläge gemindert worden und es sei eine Nivellierung der Preisunterschiede eingetreten. „Das Zusammenspiel funktioniert und das gibt es weltweit nur bei uns“, sagte Estermann.
Das gesamte Handelsvolumen an den deutschen Grenzen im kurzfristigen Day-Ahead-Markt habe im vergangenen Jahr 88,6 Milliarden kWh betragen. Davon waren 58 Prozent Importstrom (51,9 Mrd. kWh) und 42 Prozent wurden exportiert (36,9 Mrd. kWh). Unterm Strich wurden also 15 Milliarden kWh Strom im vergangenen Jahr eingeführt.
Was das nun besagt? Eigentlich nicht viel, so Estermann. Denn entscheidend sei nicht die Menge, sondern der Preis. Durch die europäische Marktkopplung gebe es eine deutliche Reduktion von „extrem hohen und negativen Strompreisen“. Der Konsument sei ein großer Profiteur dieser Situation, weil er immer den kostenoptimalen Preis bekomme.
Estermann hat auch Zahlen mit dabei. So führt die Marktkopplung im kurzfristigen Day-Ahead-Handel in Deutschland zu einem Wohlfahrtsgewinn von 3,4 Milliarden Euro – nur in Deutschland. Bezogen auf ganz Europa reicht diese Zahl knapp an die 30 Milliarden Euro heran.